Uta 1967

Bonn
Overath
Heppenheim
Voerde
Köln
Heidelberg
Hannover
Kellnerin
Geschäftsführerin
Filmcatering
Werbeagenturpraktikantin
Kinoteamleiterin
Erzieherin
Hospizmitarbeiterin
Behindertenbetreuerin
Künstlerin

OKTOBER 1972: Meine geliebte Grossmutter ist über Nacht bei uns. Ich krieche morgens zu ihr ins Bett, meinen Kopf drücke ich in ihre Armbeuge. Ich nehme das bereitliegende Buch und lese ihr zum ersten Mal vor. Bis jetzt war es immer umgekehrt. Ich habe bei ihr durch ihre Geduld und ihre Freude an meinem Erfolg lesen gelernt.

JUNI 1978: Wir spielen bei den Nachbarn im Heu. Zum Spiel gehört, dass der 16-jährige älteste Sohn mich in eine abgetrennte Ecke zieht und mir Küssen beibringen will. Sein Speichel riecht übel. Er öffnet seine Hose und sagt, das gehört dazu. Alle würden das tun. Er drückt mich mit seinen Armen nach unten. Ich schäme mich und erzähle es niemandem.

OKTOBER 1981: Meine Mutter hat einen Autounfall. Mein Vater und ich finden ihr Auto. Der Notarzt und die Polizei sind schon da. Ein Polizist bittet mich, ein paar Minuten in seinem Auto zu warten. Er gibt mir die Handtasche meiner Mutter. Ich halte die Tasche im Arm. Mein Vater bringt mich nach Hause. Er fährt zu meiner Mutter ins Krankenhaus. Ich warte in der Küche. Eine Stunde später fährt mein Vater auf den Hof. Ich laufe hinaus. Er schliesst die Wagentür und sagt: «Sie ist nicht mehr».

JULI 1982: Es ist beschlossen, dass ich in ein Internat – die Odenwaldschule – gehe. Ich bin die jüngste von fünf Kindern und als einzige noch minderjährig. Mein Vater lebt allein. Ich möchte bei ihm bleiben. Ich schreie, weine, heule, flehe, bettle, falle zu Boden, halte mich an seinen Stoffhosen in Kniehöhe fest, will ihn halten. Er sagt «ich kann das nicht». In diesem Moment weiss ich, dass ich keine Chance habe. Ich bin allein.

JANUAR 1997: Mein erstes Kind, mein Sohn, wird geboren. Er ist unfassbar schön. Ich erlebe seine Geburt auch als meine eigene. Ich fühle das Universum lebendig. Ich möchte niederknien vor diesem Wunder.

APRIL 1999: Mein zweiter Sohn wird geboren. Ich bin unendlich dankbar für dieses Kind. Er schläft einen Tag lang in unserem Garten auf dem Tisch – er sieht aus, als trüge er das Wissen der Welt in sich.

JANUAR 2001: Meine Tochter wird geboren. Sie war schon lange da, bevor ich sie in mir trug. Sie kommt schnell und friedlich und ist ein eigenes Wunder.

MÄRZ 2005: Wir sind in einer Kapelle in Österreich. Ich stehe zwischen meinen Brüdern. Ich fühle eine grosse Kraft, tiefe Traurigkeit und tiefen Frieden. Einige Meter weiter liegt mein Vater. Aufgebahrt. Meine Tochter berührt mit ihrem Gesichtchen fast die Nase meines Vaters, sieht zu mir herüber, lächelt, ruft leise: «Mama, komm, es ist gar nicht schlimm!» Später erfahre ich, dass mein jüngerer Sohn im gleichen Moment draussen wieder und wieder an die Mauer tritt.

MÄRZ 2013: Seit sechs Jahren lebe ich mit meinen Kindern allein. Ich streite mich mit ihnen. Wir schreien. Meine Knie geben nach, wie so oft in den letzten zwei Jahren, ich falle um, bleibe einen Moment im Flur liegen. Ich löse mich auf. Nur ein Gedanke: «Mama, hol mich zu Dir. Bitte.» Wenige Minuten später stehe ich auf. Ich kann alles schaffen. Ich liebe das Leben so sehr.

MAI 2014: Dies hier schreiben. Gleich meiner Schwester schicken. Sie ist mir sehr nah und sehr fern. Ich weiss nicht, ob dies änderbar ist. Ich will es aber versuchen.

26.05.2014