Jana 1972

Jena
Langen
Dreieich
Langen
Egelsbach
Dreieich
Versandmitarbeiterin
Nachhilfelehrerin
Hilfsarbeiterin
Krankenschwester
Stellvertretende Pflegedienstleiterin
Mediengestalterin
Fotografin
Marketing-Beraterin

AUGUST 1984: Ich schwimme gegen hohe Wellen an und bin schon 400 Meter vom Ufer entfernt, obwohl die Flagge oben ist. Ich erlebe ein unbeschreibliches Gefühl von Kraft, Stärke, Freiheit und lerne das Meer zu lieben. Ich kämpfe und gebe nicht auf, erreiche die Sandbank, wo ich mich kaum auf den Beinen halten kann. Ich bin nicht allein.

JUNI 1986: Sonntag, 14:53 klingelt es und mein Bruder steht vor der Tür. Er ist 16 Jahre älter als ich. Ich erfahre auf diese Weise, dass ich kein Einzelkind bin. Von jetzt an muss ich damit leben, belogen worden zu sein. Ich forsche nach und entdecke insgesamt acht Halbgeschwister von sechs verschiedenen Frauen, mit denen mein Vater zusammen war. Ich nehme mir vor, alle Geschwister zu finden und kennenzulernen – egal, wie lange es dauern wird.

SEPTEMBER 1990: Ich kenne meine grosse Liebe Frank jetzt fünf Monate. Wir spüren eine ganz tiefe Verbundenheit und brechen in ein neues Leben auf. Wir gehen dahin, wo er zufällig Arbeit findet. Ich verlasse mein Elternhaus mit einem Koffer voller Bücher, ein paar Klamotten und 120 DM. Ich bin 18 Jahre alt und weiss nicht, was mich erwartet. Ich möchte nie mehr zurückkehren.

APRIL 1997: Ich sitze neben meinem toten Vater. Die Beatmungsmaschine wurde eben abgestellt. Er ist 73 Jahre alt. Ich lasse den Rucksack aus Lügen, Alkohol und all den anderen Dingen von meinen Schultern rutschen. Ich bin erleichtert und endlich frei.

FEBRUAR 1998: Ich liege in unserem Bett zu Hause neben Frank. Ich halte meine Tochter im Arm, die ich vor fünf Stunden im Krankenhaus zur Welt gebracht habe. Die Sonne scheint auf ihr winziges Gesicht. Sie hat dunkle, weiche Haare. Ich habe eine Familie. Ich bin unendlich glücklich.

DEZEMBER 2001: Mein Sohn ist gerade aus der Narkose erwacht. Er ist fast ein Jahr alt und hat seine zweite Herz-Operation gut überstanden. Jetzt wissen wir, dass er leben wird. Ich bin unendlich glücklich und erleichtert und halte ihn ganz fest in meinem Arm. Er sieht mir in die Augen.

MÄRZ 2003: Der Arzt steht mir gegenüber und teilt mir mit, dass ich eine schwerwiegende Erberkrankung habe, die Hirnblutungen verursachen kann. Ich erfahre ausserdem, dass ich diese Erkrankung an beide Kinder vererbt habe. Mein Leben wird ab jetzt ganz anders sein. Unser Leben wird ab jetzt ganz anders sein. Ich kann auf einmal nicht mehr richtig atmen.

APRIL 2010: Ich sitze mit überkreuzten Beinen in einem buddhistischen Tempel und habe zum ersten Mal meditiert. Ich spüre die Spiritualität als neue Kraft in mir wachsen, die mich nie mehr verlassen wird. Nach vier Jahren Yoga bin ich jetzt auf einem Weg, der mir meinen Platz und meinen Sinn im großen Ganzen weist, mich loslassen und annehmen lässt. Ich bin dankbar.

JANUAR 2012: Meine Tochter steht in ihrem nagelneuen Ski-Anzug vor mir. Sie hält ihren Hund im Arm und lacht mich an. Ich mache ein Foto, das ich fortan in meinem Herzen trage. Es ist eineinhalb Jahre her, dass sie eine Hirnblutung erlitten hat. Dabei verlor sie die Hälfte ihres Augenlichts, musste die Sprache und die Orientierung in der Welt neu erlernen. Sie hat sich zurück ins Leben gekämpft. Ich bin voller Liebe.

JANUAR 2014: Mein Mann und ich gehen Hand in Hand unter einem strahlend blauen Winterhimmel spazieren. Wir schauen auf unser Leben zurück, das Reden fällt uns schwer. Hinter uns liegen zwölf Operationen im Laufe von 16 Jahren. Wir suchen nach einem neuen Weg. Im letzten Jahr habe ich zwei weitere Halbgeschwister kennengelernt, jetzt fehlt nur noch einer. Ich fühle mich vollständig. Ich bin ganz ich selbst.

31.01.2014