Jana 1960

Unicov
Chur
Zürich
Chur
Zürich
Salvador da Bahia
Chur
Basel
Chur
Ennetbaden
Zeitungsverträgerin
Golf-Caddie
Lagerleiterin
Zimmermädchen
Servicemitarbeiterin
Hilfspflegerin
Alphirtin
Lehrerin
Bürokraft
Tutorin
Schulpsychologin
Kursleiterin
Psychotherapeutin

MAI 1966: Ich zeige stolz meine Anstecker-Sammlung. Der Freund meines Vaters bietet mir hundert Kronen dafür, ich lehne ab. Mein Vater sagt seinem Freund strahlend, dass ich ihm die Sammlung schenke. Er bezahlt sie mir hinterher.

AUGUST 1968: Ich erwache vom Weinen meiner Cousine. Sie steht am Fenster und schaut auf die Panzer des Warschauer Paktes hinunter, die auf der Kreuzung vorbei fahren. Den ganzen Tag. Ein junger Soldat steht starr dort und weist die Richtung. Am Mittag bringen ihm die Leute vom Dorf Suppe und Tee. Der Prager Frühling ist zu Ende.

AUGUST 1970: Ich stehe vor meiner Klasse – seit einem Jahr lebe ich mit meiner Mutter und Grossmutter in der Schweiz und werde Johanna genannt. Ich fordere meinen Namen zurück. Es geht problemlos.

SEPTEMBER 1985: Kinder klammern sich an mich in einem Heim für Strassenkinder in Mandirituba, Brasilien. Ich bekomme eine Ahnung davon, was Verlassensein bedeutet.

FEBRUAR 1989: Ich reise hinter den Eisernen Vorhang, seit meiner Ausreise war ich nie mehr dort. In Prag sehe ich abends Menschentrauben in den stillen Strassen. Sie stehen vor Schaufenstern mit laufenden Fernsehern. Am nächsten Tag treffe ich zum ersten Mal nach zwanzig Jahren meinen Vater. Wir verbringen vier Tage miteinander.

DEZEMBER 1989: Ich bin zum zweiten Mal in Prag und nehme an jeder Demonstration teil. Vaclav Havel und Peter Uhl sind im Gefängnis. Mit meinem Freund läute ich bei Peter Uhls Wohnung, seine Frau öffnet uns Fremden die Tür und bittet uns sofort herein, nachdem er sich als Matthias F. von der Vierten Internationalen vorgestellt hat. Nach einer Stunde Übersetzungsarbeit plaudern wir zwei Frauen tschechisch.

MÄRZ 2003: Mein Mann und ich stehen am Schalter der tschechischen Botschaft in Bern. Ich beantrage meine Staatsbürgerschaft zurück. Meine Kinder werden ebenfalls Tschechen, wir sind jetzt Doppelbürger. Ich weine.

MAI 2004: Ich lese Bücher von David Grossmann und Haim Omer.

SEPTEMBER 2009: Mein Mann zieht aus.

OKTOBER 2013: Seit zwei Monaten leben mein Sohn und ich allein. Meine Tochter wird volljährig sein, wenn sie in einem Jahr aus Kanada zurück kommt. Der Schmerz nach der Trennung von meinem Mann lässt langsam nach.

14.11.2013