Judith 1992

Freiburg im Breisgau
Sülsdorf bei Selmsdorf
Pratteln
Basel
Babysitterin
Flyerverteilerin
Callcenter-Mitarbeiterin

JANUAR 1996: Als ich ins Zimmer von meinen Eltern komme, sehe ich meine Mutter in einem weissen Nachthemd daliegen, in ihren Armen liegt ein kleines verschrumpeltes Wesen, es ist mein Bruder.

JUNI 1999: Wir stehen am Flughafen, warten auf meinen Vater, der uns nach unserer Indienreise abholen wollte. Nach längerem Suchen sehen wir einen grossen Mann, er hält ein Schild in der Hand, darauf steht unser Familienname. Später erfahren wir, dass mein Vater bei einem schweren Autounfall fast gestorben wäre.

MAI 2000: Ich stehe mit meinem Trio zuoberst auf dem Podest und bekomme die Goldmedaille in Sportakrobatik. In den folgenden Tagen legen uns mehrere Nachbarn die Zeitungsartikel mit unserem Bild in den Briefkasten.

APRIL 2001: Der Wald ist schön, auf einmal gefällt mir das sonst so gehasste Wandern sehr. Ich hüpfe voraus, bin übermütig und fröhlich. Plötzlich liege ich auf dem Boden, kann mein linkes Bein nicht mehr bewegen, das Knie schwillt an, ich habe Schmerzen. Mein Vater nimmt mich auf den Rücken und trägt mich nach Hause.

JULI 2002: Ich verabschiede mich von meiner Familie und steige in den Zug nach Hamburg. Ich schaue aus dem Fenster und winke ihnen.

MAI 2005: Ich liege im Aufwachraum, mein ganzer Körper ist von der Vollnarkose immer noch betäubt. Vor mir stehen meine Eltern und sagen etwas zu mir, doch ich bin noch viel zu müde und schlafe wieder ein.

APRIL 2009: Sonja sitzt an meinem Bett, sie gibt mir einen Plüsch-Marienkäfer: «Den gebe ich immer meiner Mutter, wenn es ihr schlecht geht, jetzt darfst du ihn haben.» Sie ist die erste Freundin, die mich im Spital besucht.

FEBRUAR 2010: Ich renne durchs Haus, heule nur noch Rotz und Wasser, schlage mit meinen Fäusten gegen die Wand und schreie, bis meine Stimmbänder nicht mehr mitmachen. Sonja ist tot.

NOVEMBER 2010: Meine Finger haben sich mitlerweile aufgewärmt, denn die vielen tanzenden Leute haben den Villa-Keller erhitzt. Ich sehe in der ersten Reihe meine Freunde mir zulächeln. Die Aufregung und die Angst, etwas falsch zu spielen sind verflogen.

MÄRZ 2013: Ich sitze im Rollstuhl im Churer Kantonsspital, das Leben kommt mir sehr unwirklich vor. Neben mir sitzt Patrick, wir essen zusammen Kuchen und schauen auf die Lichter der unbekannten Stadt. Ich muss mir eingestehen, dass ich mich verliebt habe.

01.08.2013