2012

JANUAR 2012: SMS an meine Schwester: Come have dinner with us, last time to meet our Swede!

JANUAR 2012: Es ist morgens um acht im Ortsbus, mein ehemaliger Sportlehrer fragt mich, ob ich einen Freund habe, und ich sage: JA.

JANUAR 2012: Transsexualität, Transidentität, Transgender – meine Gefühle haben einen Namen bekommen.

JANUAR 2012: Erst gerade haben wir eingeheizt. Draussen ist es kalt. Wir probieren die im Internet bestellten Kleider aus. Ich wohne mit meinen besten Freundinnen zusammen und möchte nie mehr hier ausziehen.

JANUAR 2012: Ich besuche meine Freundin im Spital, sie hat Zwillinge bekommen. Ich halte die kleine Luana in meinem Arm, ich darf ihre Patin sein.

JANUAR 2012: Ich bin in Frankfurt auf den nächstbesten Zug gerannt und bete während der Fahrt nach Bern, dass ich rechtzeitig im Spital ankomme, um Vater nochmals lebend zu umarmen.

JANUAR 2012: Plötzlich ist Gesundheit nicht mehr selbstverständlich. Ich liege zehn Tage im Krankenhaus und werde völlig leer. Das hilft mir, eine wichtige Entscheidung zu treffen. Ich schaffe es, einen Mann zu verlassen, von dem ich fünf Jahre lang nahezu abhängig war. Als ich die Klinik verlasse, ist es kalt und sonnig. Ich lasse einen Luftballon fliegen, den mir Freunde geschenkt hatten. Er fliegt hoch.

JANUAR 2012: Unser Büsi Flöckli wirft fünf Kater: drei Tigerli, wie Vater Igor, zwei graue, wie Flöckli.

JANUAR 2012: Ich reise durch Patagonien und bekomme die Schönheit des Lebens vorgeführt. Ich verliebe mich.

JANUAR 2012: Ich stehe in der gemeinsamen Wohnung in der Dusche und falle in ein Vakuum: Meine Mutter ist vor einem dreiviertel Jahr gestorben; B. ist da, aber kann nicht mehr lieben.

JANUAR 2012: Meine Tochter steht in ihrem nagelneuen Ski-Anzug vor mir. Sie hält ihren Hund im Arm und lacht mich an. Ich mache ein Foto, das ich fortan in meinem Herzen trage. Es ist eineinhalb Jahre her, dass sie eine Hirnblutung erlitten hat. Dabei verlor sie die Hälfte ihres Augenlichts, musste die Sprache und die Orientierung in der Welt neu erlernen. Sie hat sich zurück ins Leben gekämpft. Ich bin voller Liebe.

JANUAR 2012: Erste feste Stelle

FEBRUAR 2012: Ich suche meinen Hund, finde ihn unter einem jungen Baum liegend – tot. Ich breche in Tränen aus. Ich hole ein Messer, ritze ein Kreuz in den Baum. Wie in Trance steige ich ins Auto und fahre weinend eine Stunde lang, ehe ich das Auto abstelle. In diesem Moment spielen sich zehn Jahre meiner Kindheit und Jugend mit diesem Tier vor meinem inneren Auge ab wie ein Film.

FEBRUAR 2012: Ich ziehe mit den Kindern nach Basel, die WG löst sich auf, die Familie auch. Mit klammen Fingern laden wir bei zwölf Grad minus unsere Habseligkeiten in einen alten Lastwagen.

FEBRUAR 2012: Ich liege eine Nacht lang panisch wach und wiederhole meinen Namen, meine Adresse, meinen Lebenslauf. Mein Mann schläft im Nebenzimmer, meinem Sohn habe ich den Stoffeisbären geklaut.

FEBRUAR 2012: Ich bin Grossmutter! Stella schenkt einem kleinen Buben das Leben. Zärtlichkeit für Tochter und Enkel durchströmen mich.

FEBRUAR 2012: Ich finde die genialste WG der Welt und kann innerhalb von zwei Tagen einziehen. Es hat sogar ein Zimmer für meine Freundin, die auch ein neues Zuhause braucht.

FEBRUAR 2012: Drowning in the Sea of Love. Mein Leben beginnt jetzt.

FEBRUAR 2012: Lisa bereichert mein Leben.

FEBRUAR 2012: Ich schliesse mein Jusstudium ab.

MÄRZ 2012: Ich sitze auf dem überraschend bequemen Sofa der Psychologin. Klischeehaft, denke ich. Wieso bist du hier? Depressionen. Wie lange hast du sie schon? Ewigkeiten... Und worin siehst du die grösste Ursache? Es gibt viele Faktoren...

MÄRZ 2012: In der Wüste Indiens fühle ich mich nach langer Zeit wieder in einer Gruppe fremder Menschen wohl in meiner Haut.

MÄRZ 2012: Mit meiner Freundin und zwei weiteren guten Freundinnen gehe ich für eine Woche nach New York. Wir leben bei Freunden von Freunden in einer WG und lernen das New Yorker Studentenleben in Brooklyn kennen. Eine Woche voller Freiheit, Lachen, Shoppen, Kunst, Party und gutem Essen.

MÄRZ 2012: Als Simon mit mir eine Beziehung beginnt, bin ich verwirrt. Ich zweifle an allem, was mich mit ihm verbindet und suche nach einem Grund, die Beziehung wieder abzubrechen. Ich habe Angst, die bisherige Freundschaft zu ihm zu verlieren, das Risiko scheint mir zu hoch. Dass er nicht locker lässt, macht meine Hilflosigkeit noch schlimmer. Ich weiss nicht, wie ich mich verhalten soll – ihm, mir und meinen Gefühlen gegenüber.

MÄRZ 2012: Ich bin gern Chefin. Kann und möchte aber vorerst nicht Mutter und Chefin sein.

MÄRZ 2012: Mein Sohn sagt mir, dass er sich auf einer Skala von 1 bis 10 mindestens 10 selber liebt. Und fragt grinsend, ob er das darf.

MÄRZ 2012: Am 3. März stirbt mein Papa über Nacht. Das Schlimmste für mich ist, dass ich mich nicht verabschieden konnte.

MÄRZ 2012: Am 20. März bekommt meine Zwillingsschwester ihr erstes Kind: Jonas. Ich wünsche mir insgeheim, dass es einen Himmel gibt, von dem aus mein Papa den kleinen Jonas aufwachsen sieht.

MÄRZ 2012: Ich finde in Bern einen 5rythm-dance-Kurs. Vor zwei Jahren beim Festival in Neuseeland hatte mich nach einer durchtanzten Nacht erstmals der Flow erfasst. Nun tanze ich jede Woche meine Wellen.

MÄRZ 2012: Mein 19-jähriger Neffe stürzt sich vor den Augen seines Vaters aus dem Fenster, während ich an der Vernissage einer Fotografin bin, die ebenfalls den Freitod gewählt hatte.

APRIL 2012: Ich wohne mit meinem Freund zusammen, ich habe etwas, das ich Heim nennen kann.

APRIL 2012: Mein Vater stirbt nach elfjähriger psychischer Krankheit.

APRIL 2012: Ich unterschreibe einen Arbeitsvertrag. Ich bin angestellt! Gut, gibt es immer noch erste Male.

APRIL 2012: Ich sortiere mich neu und beginne eine Weiterbildung.

APRIL 2012: Wir sitzen am See. Er hat Weisswein und Chips mitgebracht. Wir reden über Gott und die Welt. Ich fühle mich seit langem wieder geschätzt und wertvoll.

APRIL 2012: Ich komme mit Amélie zusammen. Sie wohnt, wie ich, in Luzern. Sie ist wunderbar.

APRIL 2012: Volker trennt sich von mir.

APRIL 2012: Die Geburt meines zweiten Kindes. Es geht alles ganz schnell. Ich bin mit ihm verbunden, wir machen das zusammen. Ich bin so glücklich. Ich kann nicht glauben, dass er gesund ist.

MAI 2012: Ich ziehe aufgrund des Theaterprojektes «Saving Philotas» nach Tel Aviv. Ich entdecke ein neues Leben und ich verliebe mich.

MAI 2012: Ich merke: Dem ist es ernst mit mir.

MAI 2012: Ein Gespräch öffnet mir die Augen und gibt mir ganz viel Vertrauen.

MAI 2012: Mein Sitzplatz im Flugzeug ist zu klein für meine Gefühle. Ich verfluche mich selbst und frage mich, warum ich mich auf diese Reise eingelassen habe. Und gleichzeitig ist da eine Vorfreude auf das Abenteuer, welches mich in Mittelamerika wohl oder übel erwartet.

MAI 2012: Ich küsse Matteo auf die Stirn und schaffe es endlich zu gehen. Draussen setze ich mich auf eine Bank und frage mich fassungslos, was ich die letzten zwei Jahre bloss gemacht habe.

MAI 2012: Ein kleines Erbe ermöglicht mir, dass ich mit meinem Mann an eines meiner Traumziele reisen kann: Island. Wir fahren an weich mit Schnee bedeckten riesigen Gletschern vorbei, dazwischen Lavagestein, ein bisschen steppenartige Wiesenflächen mit Islandpferden, und im Süden, am Rand des Skalafellsjökull sehen wir einen geniesserisch im Eiswasser schwimmenden Seehund.

MAI 2012: Ich singe Beethovens «Missa solemnis» in der Kathedrale Lausanne.

MAI 2012: Ich ziehe mit Tobi in unsere erste gemeinsame Wohnung. Zuhause!

JUNI 2012: Bei «The Life And Death of Marina Abramovic» von Robert Wilson fange ich an zu weinen.

JUNI 2012: Endlich wage ich den Schritt ins Eheleben. Wir heiraten an einem wundervoll sonnigen Tag und sind bei den Feierlichkeiten umgeben vom Grün der riesigen Lindenbäume, unseren Familien und engsten Freunden. Es ist der Schritt, für den ich meine grösste Verantwortung bisher übernommen habe, und es fühlt sich absolut richtig an.

JUNI 2012: An den Eurogames in Budapest gewinne ich eine Goldmedaille.

JUNI 2012: Nach der neulich bestandenen Autoprüfung nutze ich voller Freude jede Gelegenheit, um herumzufahren. Beim Einparken eines gemieteten Leihwagens in einer unbekannten Garage kratze ich die gesamte Seitentüre an einem Betonpfosten auf. Ein Spass, der mich eine Busse von 3000 CHF kostet.

JUNI 2012: Ich heule im Krankenhaus in Guatemala. Der Arzt begrüsst jede meiner Zehen mit einem fröhlich gesungenen «Buenos Diiiiaaaas». Danach reisst er mir den Zehennagel aus. Ich warte darauf, dass eine der tausend Schweissperlen auf seinem Gesicht auf meine nackte Zehe tropft.

JUNI 2012: Ich schließe nach fünf Jahren mein Filmprojekt ab und feiere mit wundervollen Menschen die Premiere im Kino.

JUNI 2012: An einem Festival in der Schweiz lerne ich den schönsten, besten Mann kennen und lieben.

JUNI 2012: Und los! Das Ziel: Per Autostopp in die Türkei und zurück. Die Freaks: Meine Mitbewohnerin und ich.

JUNI 2012: Ich erhalte die Studienplatzbestätigung. Es ist ein gutes Gefühl. Ich kann es mit meiner Familie und Simon teilen.

JUNI 2012: Die Vorstellung ist beendet. Ich verlasse den Saal. Auf dem Flur steht eine ältere Dame. Als ich an ihr vorbei gehe, legt sie eine Hand auf meinen Arm. «Danke», sagt sie.

JUNI 2012: Mein erster Arbeitstag am Theater. Es ist wie im Traum. Und wird es auch bleiben... Da will ich hin!

JUNI 2012: Mein erstes Openair. Drei Tage lang nur Musik, die Sonne geniessen und mit Freunden lachen. Ich habe das Gymnasium abgeschlossen, vor mir liegt eine weite Reise und ein neuer Lebensabschnitt. Ich fühle mich frei und glücklich.

JUNI 2012: Nach viel Pech in der Liebe treffe ich einen Mann, mit dem plötzlich alles ganz einfach ist.

JUNI 2012: Mein Singlehrer meint, er höre mich zum ersten Mal wirklich singen.

JULI 2012: Die Prüfungen sind bestanden. Die neu gewonnene Freiheit fühlt sich super an. Die Sonne scheint.

JULI 2012: Mit Simon fahre ich an ein Konzert von Coldplay. In diesen Stunden gibt es nichts anderes als die Menschenmasse und die Musik. In meinem Kopf spielt sich nichts anderes ab, ich bin abgeschottet von der Aussenwelt.

JULI 2012: Ich hänge mit drei kiffenden Fischern in einer Hütte auf einer winzigen Insel in Belize während meine Kumpels draussen den Grill anschmeissen. Noah sieht mich am Fenster stehen. Er lacht. Mein Grinsen ist mindestens genauso breit wie ich.

JULI 2012: Papa hat Krebs.

JULI 2012: Es ist der Abend, bevor ich meinen ersten «richtigen» Job beginne. Ich kann nicht schlafen und das Gefühl, dass mein ganzes Leben vor mir liegt und mir alles offen steht, zerreisst mich beinahe.

JULI 2012: Die Sonne brennt, der Sommer ist da. Drei Tage lang Festival mit bombastischer Musik, viel Freude und Hitze. Die einzige Abkühlung bietet der Fluss. Dort lerne ich IHN kennen. Wird es die Liebe meines Lebens?

JULI 2012: Ich ziehe in eine Wohnung mit Rheinblick.

JULI 2012: Ich liege in einem Hotelzimmer in Lyon und google meine Symptome. Erst zwei Nächte später registriere ich: Ich bin einfach gerade sehr, sehr glücklich. Ich beschliesse, ab sofort rechtzeitig zu erkennen, wenn ich es nicht bin.

JULI 2012: Jasper und ich fahren Gocart an der belgischen Küste.

JULI 2012: Ich werde pensioniert. Seither arbeite ich noch aushilfsweise an der Schule, helfe meinem inzwischen schwer gehbehinderten Mann durch den Alltag, geniesse meine beiden Hunde, male viel und möchte gerne noch mehr reisen.

JULI 2012: Mein kleiner Bruder und ich sind uns so nah wie noch nie. Wir erzählen uns alles. Zu seiner bestandenen Matur schenke ich ihm einen Kurztrip nach Portugal. Dort benutzen wir zum ersten Mal Couchsurfing und übernachten vier Tage bei einem Unbekannten.

JULI 2012: Haya steht weit vor mir im Wasser und winkt mir zu. Ich stehe in Genua am Strand und gehe das erste Mal im Meer baden.

JULI 2012: Wir ziehen in die Haldenau.

JULI 2012: Ich sitze schon wieder am Flughafen und frage mich, warum. Das chilenische Mädchen ist der Grund, doch ich begreife schon vor der Ankunft, dass es Quatsch ist. Wir haben fünf schöne Wochen gemeinsam, dann sehen wir uns nie wieder.

JULI 2012: Ich lerne in der Aare schwimmen und entscheide mich, mit einem Fuss wieder in Bern zu wurzeln.

JULI 2012: Das erste Mal bin ich mit einem Mann zusammengezogen. Es funktioniert aus verschiedenen Gründen nicht und an einem Sommerabend merke ich schon beim Tür aufschliessen, dass diese Wohnung nie mein Zuhause war und ich hier nicht mehr schlafen will.

JULI 2012: Ich gehe nach London und lerne die Schauspielerei aus Sicht von Shakespeare näher kennen.

AUGUST 2012: Unser Sohn kommt per Kaiserschnitt auf die Welt. Er ist gross. Die Liebe auch.

AUGUST 2012: Mein erster Arbeitstag im Theater.

AUGUST 2012: Das ist es also, wenn die Seele nicht mehr da ist, denke ich beim Anblick meines aufgebahrten Vaters.

AUGUST 2012: Die Untersuchungen bei Spezialisten ergeben, dass das Kindermachen für mich und meinen Freund sehr schwierig wird.

AUGUST 2012: Mein Vater fragt mich, wie gut ich damit zurechtkomme, dass es ein wichtiger Teil meines Berufs ist, Menschen zu manipulieren.

AUGUST 2012: Er und ich ziehen zusammen in das Haus. Ich bin angekommen.

AUGUST 2012: In Frankfurt fällt mir die Decke auf den Kopf. Ich gehe für zwei Auslandssemester nach Montpellier.

AUGUST 2012: Ich mache Urlaub an der Ostsee mit einem Freund. Ich versuche, meinen Freund anzurufen, er geht nicht ans Telefon, er ist im Ausland und probt. Ich versuche es den gesamten Tag, 25 Anrufe. Er geht nicht ran. Ich rufe einen Freund von Paul an, Paul ist im Krankenhaus, Koma. Mein Leben ist auf einmal angreifbar.

AUGUST 2012: Abreise von London. Nach fünf Wochen Autostopp, Wandern und der Suche nach den optimalen Zugverbindungen komme ich mit meinem Weggefährten in Rom an.

AUGUST 2012: Meine Vorstellung davon, wie mein Leben in den kommenden Jahren aussehen wird, bricht zusammen. Ich sehe nun endgültig, dass ich nur eine Chance habe, mein Leben so zu leben, wie ich es will – und fange damit an.

AUGUST 2012: Wir feiern unsere Hochzeit mit vielen Freunden und einem Grillfest auf der Kraftwerkinsel.

AUGUST 2012: Ich schliesse Frieden mit der Babyzeit und trinke zehn Tage lang darauf.

AUGUST 2012: Ich bewerbe mich auf den ersten Full-time job in London und werde tatsächlich genommen. Ein Traumjob, denke ich, und werde recht behalten.

AUGUST 2012: Ich habe mit jemandem abgemacht, von dem ich weder weiss, wie alt er ist noch wie er aussieht. Der Platz ist voller Menschen. Da sehe ich einen Mann und weiss sofort: Das ist er.

AUGUST 2012: Ich tanze meine erste Solo-Choreographie in Brasilien.

AUGUST 2012: Ich erfahre, dass ich aus toten Sternen bestehe, und diese aus toten Sternen, und diese aus toten Sternen. Ich kann wieder schlafen und tanzen.

AUGUST 2012: Ich komme aus einem Ferienlager nach Hause und meine Mutter holt mich am Bahnhof ab. Sie zeigt mir meine neue Klassenliste für die Kanti und ich breche unglücklich in Tränen aus.

SEPTEMBER 2012: Strömender Regen. Ich irre schwer bepackt durchs Unterholz eines schwedischen Waldes und fühle mich so sicher und behütet wie noch nie. Als wir den kleinen See endlich finden, gehen Hanna und ich nackt baden. Ich bin doch richtig auf dieser Welt.

SEPTEMBER 2012: Eine Freundin aus Hamburg kommt mit dem Auto nach Zürich, um mich mit meinem Bett und meinem Fahrrad nach England zu bringen.

SEPTEMBER 2012: Ich sehe meine Oma nach über einem Jahr widerwillig wieder, aber sie ist nicht mehr meine Oma. Sie ist abgemagert, hat graue Haut und kann kaum mit mir sprechen. Sie steckt sich eine Kippe an und es ekelt mich. Es ist das letzte Mal, dass ich sie nicht als Patientin sehe.

SEPTEMBER 2012: Ich bin mutig. Und küsse das Mädchen, in das ich mich verliebt habe.

SEPTEMBER 2012: Ich tanze im WG-Esszimmer mit L. und stelle mir unsere Beziehung genau so intensiv und frei vor wie wir miteinander tanzen.

SEPTEMBER 2012: Nachdem ich viele Jahre an der Uniklinik in der Krebsforschung gearbeitet habe, beende ich die Dissertation und fange an, für ein kleines Unternehmen zu arbeiten.

SEPTEMBER 2012: Ich lerne einen Teil meiner Familie in London kennen. Durch den Holocaust hat sich meine Familie auf der ganzen Welt verteilt. Meine Cousine sah mich kurz nach meiner Geburt, danach hatten wir uns aus den Augen verloren. Nun treffen wir nach sechsundzwanzig Jahren wieder auf einander und das gleicht einem kleinen Wunder.

SEPTEMBER 2012: Ich verliebe mich über beide Ohren.

SEPTEMBER 2012: Mein Vater sagt mir, dass er schwul ist. Er verlässt meine Mutter nach achtundzwanzigjähriger Ehe für einen jüngeren Mann. Meine Mutter weint viel. Meine Brüder sind verstört.

SEPTEMBER 2012: Ich erzähle meiner Mutter, dass ich mich in eine Frau verliebt habe. Eine schwierige Zeit beginnt, voller Diskussionen und viel Streit.

SEPTEMBER 2012: Er will Kinder, ich will keine. Es ist aus.

SEPTEMBER 2012: Ich bekomme eine 1,0 für mein begehbares Hörspiel 'Hörst du Rot?'.

OKTOBER 2012: Nach monatelangem Nichtwissen kommt die positive Nachricht: Der Jobwechsel wird eintreten. Ein Traum meines Freundes geht in Erfüllung.

OKTOBER 2012: Wir sitzen zu viert am Tisch in St. Jakob. Ich lache so intensiv wie schon lange nicht mehr über einen dummen Witz, den wir einem Freund am Vorabend erzählt haben.

OKTOBER 2012: Ich nähe ein Kostüm.

OKTOBER 2012: Ich nehme mit dem Ensemble Modern an einem wichtigen Konzert in kleiner Besetzung teil, das aus der Frankfurter Oper im Radio übertragen wird. Sie mögen mich beim Ensemble – mich?!

OKTOBER 2012: Mein Onkel ruft mich völlig unerwartet in London an und sagt, dass meine Mutter seit zwei Stunden im Spital liegt und keine Überlebenschancen hat. Fünf Stunden später stehe ich an ihrem Bett und die Maschine wird abgestellt.

OKTOBER 2012: Severin erhält eine positive Nachricht von der Anschlussschule, bei der er die Aufnahmeprüfung gemacht hat. Wir freuen uns alle und sind erleichtert.

OKTOBER 2012: Ich will ins Praktikum fahren und habe die falsche Strecke im Kopf, kein Navi im kleinen Smart dabei, und es strömt wie aus Eimern. Ich fahre bis nach Friedberg und drehe um, muss tanken und anrufen, um zu sagen, dass ich später komme. Ich fahre wieder falsch und lande in Frankfurt. Ich will die Autobahnauffahrt zurück nehmen, aber mein Wagen schleudert mich herum. Ich pralle mit dem Heck gegen die mittlere Leitplanke und sehe von rechts die Lichter der kommenden Autos. Ich schalte den Warnblinker an und schaffe es irgendwie lebend und ohne einen Kratzer nach Hause.

OKTOBER 2012: Ben und ich feiern unser siebenjähriges Zusammensein mit einem Apéro à deux.

OKTOBER 2012: Selbstgewählter Tod eines Freundes: Ich kann die Nachricht auch nach der hundertsten Wiederholung weder verstehen noch begreifen, geschweige denn irgendwie einordnen – dazu das traurige Gefühl, diesem Menschen nie mehr zu begegnen.

OKTOBER 2012: Zum Geburtstag schenkt mir Helena das Strategiepapier eines Architekten zur Hauserneuerung im Südpiemont. Jetzt ist klar, wie und wo mein Leben nach dem Unterrichten weitergeht.

OKTOBER 2012: Unsere Tochter ist verheiratet und ich werde zum ersten Mal Grossmutter.

NOVEMBER 2012: Am 21.November, dem Geburtstag meines Vaters, tritt der dritte wichtige Mann in mein Leben: Er hat vier Beine und zwei Schwänze und heisst Balu. Er ist ein traumhaft hübscher Blauer Weimaraner und ich habe unzählige Gespräche, wenn wir zusammen unterwegs sind.

NOVEMBER 2012: Wir machen einen Ausflug auf den Bölchen mit der Tochter umgebunden und essen Zmittag auf dem Challhof.

NOVEMBER 2012: Tim sagt mir am Helvetiaplatz, er hätte die Hoffnung in unsere Liebe verloren. Ich laufe ihm nach 15 Minuten ohne weiteren Wortwechsel davon und versuche mir ein anderes Leben vorzustellen.

NOVEMBER 2012: Ich stelle beim Ausfüllen dieser Liste fest, dass die wichtigsten Ereignisse meines Lebens oft Konzerte oder Theateraufführungen sind und beschliesse, mit meinem Leben mehr in die Natur und mehr ins Zwischenmenschliche zu gehen.

NOVEMBER 2012: Ich gebe der Vermieterin das letzte Mal die Hand. Vorbei. Traurig. Erleichtert.

NOVEMBER 2012: Ich singe mit meinem Opa «Frère Jacques». Danach rauchen wir zusammen eine Zigarette aus Moskau. In dem Moment weiss ich, dass es das letzte Mal sein wird, dass ich Opa lebend sehe. Ich bin glücklich, dass ich mich noch verabschieden konnte.

NOVEMBER 2012: Nach einem Bewerbungsgespräch fahre ich entmutigt zurück. Mein Handy klingelt und ich bekomme die Zusage von der Studienstiftung. Mit Freudentränen steige ich aus der Bahn, vergesse dabei mein Fahrrad und renne ihr bis zur Endstation hinterher.

NOVEMBER 2012: Ich werde dreissig Jahre alt und lade meine Familie und meine FreundInnen ein. Wir feiern lange und ich schätze mich glücklich. Das Leben macht mich noch immer trunken.

NOVEMBER 2012: Ich werde von einem Radfahrer überfahren und stürze schwer. Der Bruch im Fuss ist geheilt, an Ellbogen und Schulter arbeite ich noch.

NOVEMBER 2012: Tereza und ich heiraten, und unsere Tochter Sara kommt auf die Welt. Wir sind jetzt eine Regenbogenfamilie.

NOVEMBER 2012: Ein Tag nachdem ich die Trennung zu Mirjam beschlossen und ausgesprochen habe, stelle ich fest, wie viel Gefühl und Verbundenheit noch da ist.

DEZEMBER 2012: Karl und ich feiern Silberne Hochzeit – es geht uns sehr gut, wir sind gesund und zufrieden, unsere Beziehung stimmt.

DEZEMBER 2012: Dank meines neuen Stehtisches sitze ich kaum mehr beim Arbeiten und bin vom gekrümmten zum aufrecht stehenden Menschen mutiert. Endlich verschwinden die Rückenschmerzen.

DEZEMBER 2012: Als das Flugzeug in Frankfurt den Boden berührt, kann ich es nicht länger zurückhalten und beginne zu weinen. Die nächsten fünf Monate werde ich nicht nach Istanbul fliegen.

DEZEMBER 2012: Seit 15 Jahren spielen zwei Kollegen und ich jeweils am 24. Dezember Rollhockey und tragen unseren eigenen «Christmas Hockey Cup» aus. Ich gewinne zum zweiten Mal hintereinander. Der Druck für die nächste Austragung steigt!

DEZEMBER 2012: Ich fühle mich einsam und nicht zuhause. Die Monate in Hamburg sind schrecklich, kalt und dunkel. Lichtblicke sind die Abende in der Familie einer Freundin.

DEZEMBER 2012: Ich bin schuldenfrei – die Zukunft sieht rosig aus!

DEZEMBER 2012: Ich fühle Renates Baby, wie es gegen ihren Bauch schlägt und wünsche mir, in ihrer beider Nähe bleiben zu können.

DEZEMBER 2012: Philipp erzählt mir von seinen Problemen. Es schmerzt unglaublich zu wissen, dass jemand, den man so gerne hat, so etwas durchmacht.

DEZEMBER 2012: Die charismatische Musikerin Assita Hamidi stirbt in Bern an Krebs. Ich habe sie sehr bewundert.

DEZEMBER 2012: Ich geniesse die Zeit mit Stefanie auf dem Riesenrad in Wien. Ich erwische mich beim Schmieden von gemeinsamen Zukunftsplänen.

DEZEMBER 2012: Heute bin ich seit sechsunddreissig Jahren alleinstehend, seit vierzehn Jahre geschieden, sechsfache Grossmutter und fünffache Urgrossmutter. Ich habe ein gutes Leben, ganz für mich, mit Freundinnen, mit der Familie – ich kann tun, was mir Spass macht.

DEZEMBER 2012: Ich finde am Meer sechs Steine in fast perfekter Form eines Herzens.

DEZEMBER 2012: Ich bin in Thailand. Die Wellen des Meeres zeigen mir, dass alles in Bewegung ist.

DEZEMBER 2012: Wieder ist es so klar – das Bewusstsein, mit einem wunderbaren Menschen mein Leben zu teilen. Ein liebendes Gefühl befällt mich.

DEZEMBER 2012: Nach einem Vorsingen bin ich auf dem Weg nach Hause. Die Dinge, die gesagt wurden, machen mir Angst. Ich schaue aus dem Fenster. Die Welt ist riesengross.

DEZEMBER 2012: Ich arbeite an einem Riesen-Projekt mit, das mich überfordert. Noch bevor die über 4'000 Jugendlichen das Areal bevölkern, bin ich am Ende meiner Kräfte.

DEZEMBER 2012: Ich stehe nach einem Jahrzehnt wieder auf den Skiern – und es funktioniert!