2008

JANUAR 2008: Mein Vater steht am Fenster des Pflegezentrums Wittikon neben seinem Bett, schaut auf die Stadt Zürich und sagt: «Jetzt ist grad ein Adler ins Dorf hinunter geflogen.»

JANUAR 2008: Ich wohne meiner ersten Leseprobe einer professionellen Theaterproduktion bei. Eine bislang ungekannte Faszination dafür, wie Text vom Blatt in den Mund zum Ohr fliesst und eine stille Bewunderung für alle, die an diesem Tisch sitzen, bricht in mir aus.

JANUAR 2008: Ich werde in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Mitten in einem manischen Schub, mit einer gehörigen Portion Substanzen aus den letzten Tagen im Blut. Als ich mich ein wenig beruhigt habe, gerate ich an ein Buch, an ein Meisterwerk, an eine Offenbarung: Jonathan Littel, 'Die Wohlgesinnten': «Ihr Menschenbrüder, lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist.»

JANUAR 2008: Ich lerne Anina kennen und wir entscheiden nach zehn Minuten Gespräch, gemeinsam einen Hauskreis zu starten.

FEBRUAR 2008: Ich trete aus dem Migrationsamt, halte meinen Ausländerausweis in den Händen und könnte Bäume ausreissen: Eine lehrreiche Arbeitsphase mit einer tollen Chefin beginnt!

FEBRUAR 2008: Wir lachen und tanzen und trinken die ganze Nacht. Es ist der beste Abend aller Zeiten und mir wird klar, wie lieb ich die drei hab. Und dann muss ich kotzen.

FEBRUAR 2008: Blumen zieren den Schmerz und das Glück.

FEBRUAR 2008: Der Vater einer sehr guten Freundin stirbt und ich muss lernen, dass das Leben ungerecht ist.

FEBRUAR 2008: Christine und ich fallen uns auf dem Marktplatz in Aix-en-Provence weinend in die Arme. Wir haben monatelang nicht miteinander gesprochen.

FEBRUAR 2008: Jetzt kann ich die Bibel selber übersetzen. Ich beschliesse, mich doch konfirmieren zu lassen und Theologie zu studieren.

MÄRZ 2008: Ich erprobe meine neuen Joggingschuhe am Neuenburgersee, sehe Fred schon von weitem auf dem Balkon meiner Wohnung stehen und denke, dass man so nach Hause kommen könnte.

MÄRZ 2008: Es ist endlich so weit. Ich stehe in meiner Sorglosigkeit da und blicke auf. Eine Aussicht, die ich sonst nur von Gemälden kenne, nun stehe ich mitten drin am Goldenen Horn. Ganz alleine vor den riesigen Architekturen und der Wirklichkeit der Aussicht. Ich bin hingerissen.

MÄRZ 2008: Die Liebesgeschichte mit Nicolas endet. Ich dachte, sie würde nie vorbei gehen.

MÄRZ 2008: Meine Grossmutter küsst mich das letzte Mal auf die Stirn.

APRIL 2008: Meine Eltern besuchen mich spontan. Es ist ein sonniger Sonntag. Wir stehen im Flur und mein Vater versucht mir zu sagen, dass er Krebs hat.

APRIL 2008: Es läuft Robbie Williams im Radio. Obwohl wir grade essen, dreht sie die Musik so laut, dass man selbst sein eigenes Kauen nicht hören kann. Das macht sie immer.

APRIL 2008: Innerhalb von vierundzwanzig Stunden ziehe ich aus Hamburg weg. Ich stehe in der leeren Wohnung und sieben Jahre rasen durch meinen Kopf. Mein Vater weint – vielleicht, weil ich es nicht kann.

APRIL 2008: Ich kündige und mache mich selbstständig.

APRIL 2008: Auch meine Mutter bekommt die Diagnose Krebs. Ein Schock! Wir vier Schwestern begleiten sie mit entsprechender Unterstützung unserer Familien. Erst jetzt können wir ermessen, was sie mit unserem Vater geleistet hat.

APRIL 2008: Ich spiele das erste Mal in einem Orchester mit hundert Musikern. Der Saal ist mit siebenhundert Zuhörern ausverkauft. Schumanns 2. Sinfonie ist das Schlussstück. Am Ende breche ich in Tränen aus, das Gefühl ist berauschend und ich wünsche mir, dass dieser Moment nie aufhört.

APRIL 2008: Berlin. Ich erinnere mich an meine Muttersprache.

MAI 2008: Als Projektleiterin eines fünftägigen Tanzfestivals halte ich meine erste öffentliche Ansprache. Das Üben unter der Dusche und auch alle andere Arbeit hat sich ausgezahlt.

MAI 2008: Ich bin eins mit dem wunderbaren Vierwaldstättersee, den Bergen rundherum, mit meinem Körper und Geist: Rudern!

MAI 2008: Ich kriege eine Rolle in einer Serie nicht, die ich so gerne gekriegt hätte und lande deshalb im Schauspielhaus Salzburg, wo ich meine Frau kennenlerne.

MAI 2008: Erkenntnis: Ich bin gar keine Frau...!?

MAI 2008: Ich melde mich unter falschem Namen auf einem Chat-Profil an. Eine zaghafte erste Liebe entsteht und endet voller Trauer, Enttäuschung und Wut.

MAI 2008: Erstes Treffen mit Peter nach einer Hals-über-Kopf-Bewerbung – meine Pläne stimmen endlich wieder.

MAI 2008: Vois Sur Ton Chemin. Irgendwo in Frankreich sehe ich von einem Hügel aus zum ersten Mal die Pyrenäen am Horizont. Es ist, als ob ich mein Leben lang auf genau diesen Moment gewartet hätte.

MAI 2008: Mein Vater Gieri stirbt, nachdem ich genügend Zeit mit ihm verbringen und ihm meine Liebe ausdrücken konnte.

MAI 2008: Meine Grossmutter und ich verabschieden uns voneinander am Spitalbett. Es schüttelt mich.

MAI 2008: Einen Monat nach Studium Abschluss als Dipl. Ing. ETH, beginne ich meine erste Stelle als Elektroingenieurin. Hier arbeite ich heute noch.

MAI 2008: Nachdem meine Mutter uns in der Eisdiele anschreit, beschliessen meine Schwester und ich, dass wir keinen Kontakt mehr zu ihr haben wollen.

JUNI 2008: Ich bin nervös vor den Prüfungen und nehme ein Schlafmittel. Panik, Lernspaziergang an der Isis, Prüfung. Lerne, nehme nochmals ein Schlafmittel, das Adrenalin dominiert, Prüfung. Lerne wieder für den nächsten Tag, nehme jetzt keine Schlafmittel mehr, Prüfung. Mein Bruder wartet auf mich am Ende der Logic Lane und wir essen zusammen zu Mittag im University Club. Danach bin ich endlich auf der OxfordTube auf dem Weg zu Catherine. Freue mich so sehr auf sie, denke nichts, schlafe nicht – bereits seit circa 80 Stunden wach. Wie in Trance.

JUNI 2008: Ich erfahre, dass meine Mutter meiner Schwester vor zwei Jahren angedroht hat, von der Brücke zu springen, wenn wir nicht zu ihr zurückkommen. Ich verstehe immer mehr, dass es uns gut tut, unsere Mutter nicht zu sehen.

JULI 2008: Ich torkle betrunken nach Hause. Ich wohne in der Stadt und fühle mich frei.

JULI 2008: Einmal mehr muss ich feststellen, dass Freundschaften zwischen Frauen und Männern oft das verheerende Potential bergen, dass sich darin unerkannte Liebe versteckt.

JULI 2008: Ich fahre mit zwanzig Musikern nach Frankreich zu einem internationalen Austausch, ich kenne keinen Einzigen. Zum ersten Mal in meinem Leben finde ich keinen Anschluss an eine Gruppe. Nach dem dritten Tag schweige ich und gehe allein an den Strand. Ich bin einsam, denke ich.

JULI 2008: Ich bin schockiert über den überraschenden und unerklärlichen Selbst-Unfalltod meiner sehr geliebten Mutter.

JULI 2008: Meine Chefin wirft eine Matratze vom 22. Stock. Sie versucht mir die Schuld zu geben.

JULI 2008: Warschau. Am Flughafen. Allein. Er ist schon abgereist. Das Bild in meinem Kopf wird in London zur Performance, tourt international. Wir auch. Die Beziehung bricht mit.

JULI 2008: Mara kommt um 4.24 Uhr zu Welt, sie schreit nicht, sondern guckt mich nur aus ihren dunklen Knopfaugen an. Dominik sitzt mit einer Alkoholfahne in der Ecke des Kreißsaals. Er kam erst während der Presswehen hinzu, ich wollte ihn weit weg haben. Als ich den Alkohol roch, hörten die Wehen auf, ich wollte nicht mehr, hörte auf zu pressen. Irgendwie hat die Ärztin das Kind aus mir rausgekriegt. Jetzt halte ich Mara in den Armen und bin glücklich.

JULI 2008: Die Sonne scheint. Sie sagt, es breche ihr das Herz, aber sie habe sich entschieden. Mit Mühe bleibe ich auf meinen Beinen stehen. Die Sonne scheint und eine lange lange Zeit der Dunkelheit beginnt.

JULI 2008: Bea will ihren Kopfwehkopf gegen die Kühlschranktüre rammen und sich vor lauter Schmerzen vor ein Auto stürzen.

JULI 2008: Ich bin diplomierter Lehrer der Feldenkrais-Methode. Ein Amerikaner würde schreiben: «How could I live without it?!» oder «It completely changed my life!» Beides trifft auf mich zu.

JULI 2008: Ich komme nach mehrstündiger Fahrt zum Krankenhaus und erfahre, dass mein kranker Halbbruder in der Nacht gestorben ist. Meine Schwester, die wusste, dass ich ihn unbedingt noch einmal sehen wollte, hat mich nicht rechtzeitig angerufen. Da fällt bei mir innerlich eine schwere Tür ins Schloss.

JULI 2008: Mein Mann stirbt nach neun quälenden Wochen auf der Intensiv-Station.

JULI 2008: Die fünfte Auflage meines Festivals ist ein totales Fiasko. Völlig übernächtigt frage ich mich die ganze Zeit, wie ich das alles bezahlen soll. Aber verdammt, es ist doch nur Geld und die Party ist der absolute Wahnsinn!

AUGUST 2008: An der Beerdigung meiner Grossmutter sehe ich meinen leiblichen Vater nach zwanzig Jahren das erste Mal wieder.

AUGUST 2008: Ganz allein erkunde ich meine Lieblingsstadt Rom und kann mir dafür vier Monate Zeit nehmen.

AUGUST 2008: Es hat geklappt. Ich habe auf einen Schlag 20'000 Euro. Ich beschliesse, mein Leben zu ändern. Ich kündige und mache mich selbstständig. Ich mache eine Tanz-Weiterbildung und lerne dort Beatrice kennen.

AUGUST 2008: Mami, ihre Hündin Myrta und ich verbringen Ferien in Südfrankreich. Die beiden holen mich aus einer schlimmen Mobbing-Stimmung aus dem Büro raus. Auf der Reise nach Südfrankreich fällt aller Ballast von mir ab und ich beschliesse, vom Chefinnen-Posten wieder zur Mitarbeiterin zu wechseln.

AUGUST 2008: Ich erzähle es doch. Wir erstatten Anzeige. Fürsorglicher Freiheitsentzug für meine Eltern. Ich werde sechs Wochen in eine geschlossene Psychiatrie gebracht. Drei Monate später ist alles vorbei. Wir sind wieder frei. Das Verfahren wird eingestellt. Ich bin sehr einsam.

AUGUST 2008: Ich warte mit meiner Mutter, meinen drei Schwestern und zehn Koffern am Flughafen von Toronto darauf, dass Vater mit dem Auto kommt. Es ist mein erster Besuch auf dem amerikanischen Kontinent – und dann bleiben wir gleich für ein Jahr. Ich freue mich.

AUGUST 2008: Ich lerne Sebastian kennen und bin zum ersten Mal glücklich verliebt.

AUGUST 2008: Abschied von Wien mit ganz vielen Freunden an der Alten Donau. Der Abend soll nicht enden.

AUGUST 2008: Vor drei Jahren habe ich begonnen, in schweisstreibender Arbeit unsere Dachterrasse zu begrünen. Jetzt ernte ich die erste Birne. Ich habe keine bessere je gegessen.

AUGUST 2008: Meine besten Freunde und ich laufen eine ganze Nacht lang durch meine Heimatstadt, es ist wunderbar warm und romantisch, und wir reden über Gott und die Welt und radeln dann bei Sonnenaufgang nach Hause.

AUGUST 2008: Unsere älteste Tochter fliegt von Kanada nach China, wir andern bleiben noch für ein Jahr. Ich bin stolz auf sie, auf ihre Kraft und Selbständigkeit, und ich weiss noch nicht, dass sie für immer ausgezogen ist und dass auch die anderen drei nach und nach in absehbarer Zeit von zu Hause ausziehen werden.

AUGUST 2008: Mit einer Reisetasche stehe ich an der Bushaltestelle in Küssnacht. Mein bescheidener Haushalt ist bereits unterwegs. Ich ziehe von zuhause aus. Nach Berlin.

AUGUST 2008: Ein paar Stunden nach Lorenz' Geburt liege ich auf dem Bett. Draussen die sommerliche Hitze, um das Bett versammelt stolze Grosseltern. Doch ich höre und sehe nichts, mir ist schwindlig. Umso klarer – etwas verzögert, und zum ersten Mal mit dieser Heftigkeit – die Erkenntnis, was an diesem Morgen passiert ist.

AUGUST 2008: Meine langjährige Freundin Mila macht Schluss.

AUGUST 2008: Mit unseren vier Töchtern sind wir in Kanada. Wir sehen zum ersten Mal im Leben frei lebende Wale.

AUGUST 2008: Ich bin arbeitslos, aber trotzdem glücklich: Ich wohne einen wunderbaren Sommer lang mit meiner jüngeren Schwester zusammen. Wir lachen viel und geniessen die Sonne auf dem Balkon.

AUGUST 2008: Erste längere Rucksackreise durch Panama, Costa Rica, Nicaragua und Kuba.

SEPTEMBER 2008: Ich lerne meine Lebenspartnerin kennen. Ich bin angekommen.

SEPTEMBER 2008: Ich laufe auf der Strasse an einem Bürofenster vorbei. Der Intendant drinnen schickt mir seine Praktikantin hinterher. Ich werde dort arbeiten.

SEPTEMBER 2008: Ich laufe den Berlin Marathon – 42.195 lange Kilometer flacher Asphalt. Autsch!

SEPTEMBER 2008: Künstler Kurt, den ich seit langem bewundere und endlich selber eingeladen habe, muss während der Eröffnung des Soho House über meinen Wurstsalat lachen – der Beginn einer aufreibenden Zusammenarbeit.

SEPTEMBER 2008: Durch Gilles beginne ich zu erahnen, was es bedeuten könnte, auf der Bühne und vor der Kamera wahrhaftig zu sein.

SEPTEMBER 2008: Das ganze Jahr ist wie ein Sturm, ich arbeite und reise viel. Während meines letzten Aufenthalts in Miami fahren wir auf einem Schiff durch die Kanäle, baden nachher im Hotelpool, und als wir danach in der Sonne liegen, liebe ich das Leben und fühle mich wohl und glücklich.

OKTOBER 2008: Ich entdecke die Musik von Sigur Ros.

OKTOBER 2008: J. kommt zu meinem Gastspiel und sagt mir nachts am Hamburger Hafen: «Ich liebe dich». Wir essen ein Fischbrötchen und ich boxe gegen seinen Arm, weil ich nicht glauben kann, was passiert.

OKTOBER 2008: Dani entführt mich achtzig wunderschöne Minuten lang ins rote Meer. Danach bin ich bereit für ein zweites Kind.

OKTOBER 2008: Ich habe meiner Pflegefamilie verziehen und mit meiner Vergangenheit Frieden geschlossen.

OKTOBER 2008: In Berlin lerne ich ihn kennen. Unsere Wege kreuzen sich immer wieder. Es entsteht eine Freundschaft, die darauf aufbaut, dass wir uns immer wieder per Zufall begegnen und wortwörtlich über den Weg laufen.

NOVEMBER 2008: Aufgrund einer Operation treten bei mir dauerhafte, nicht mehr zu behebende Gleichgewichtsstörungen auf. Da ich ganz allein stehe, entschliesse ich mich, in ein Altersheim umzuziehen.

NOVEMBER 2008: Ich bekomme die Diagnose «Brustkrebs». Ich laufe ziellos in der Stadt herum. Das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können.

DEZEMBER 2008: Ich halte mein Göttimeitli auf dem Arm und habe mich gerade vom Mann meines Lebens getrennt – Tränen und Glück im selben Moment.

DEZEMBER 2008: Ich interviewe Frau Stohler, sie erzählt mir ihre Lebensgeschichte. Ich bin berührt und weiss: das ist es.

DEZEMBER 2008: Ich muss von einer Stunde auf die andere ins Spital und fokussiere zwangsmässig nur noch auf Lebenserhaltendes.

DEZEMBER 2008: Als ich bekanntgebe, dass ich die Lehrstelle bei der Polizei absagen werde, sagen mir meine Stiefmutter und mein Vater, dass ich mein Leben so nicht weiterleben kann, zum Studieren sei ich zu dumm. Ich bringe schüchtern heraus, dass ich noch was verschwiegen habe. Ich sei schwul. Darauf bekomme ich nur weitere wütende Blicke und ein schnippisches «Und? Haste denn 'nen Freund?» zu hören. Ich sage «Nein» und beschliesse, so schnell wie möglich auszuziehen.

DEZEMBER 2008: Mein Sohn kommt gesund zur Welt. Der schönste Tag meines Lebens. Dieses kleine Etwas soll ich erzeugt haben? Wow. Bin ich gut! Ein kleiner «Harry Potter», denn auch er hat eine Art Blitz auf der Stirn und wird im gleichen Mass geliebt.

DEZEMBER 2008: Ich rufe eine mir unbekannte Nummer zurück von einem Handy, das nicht meins ist.