2004

JANUAR 2004: Work-in-Progress-Präsentation vor den strengen Augen des Professors. Ich entwickle ein professionelles Interesse für Unsicherheit, Peinlichkeit und Scham.

JANUAR 2004: Ich umklammere meinen Rucksack und frage mich, was ich für komische Bauchschmerzen habe. Langsam realisiere ich, dass ich vielleicht verliebt bin.

JANUAR 2004: Der 70. Geburtstag meiner Stiefgrossmutter – ich sehe sie plötzlich in einem ganz anderen Licht und seit diesem Tag ist sie eine meiner engsten Freundinnen.

JANUAR 2004: Der Polizist fragt mich, ob das Zimmer vor dem Einbruch auch schon so ausgesehen hätte. Ich blicke auf die über meinen gesamten Fussboden verteilten Berge von Kleidern und nicke. Dass ich zwischen dem Einbruch und dem Polizeibesuch mein kleines Badezimmer noch kurz geputzt habe, verrate ich ihm nicht. Mein Papa schämt sich für mich. Ich mich auch.

FEBRUAR 2004: Ich werde ins kommunale Parlament gewählt. Mein Vater spricht nach Monaten des Schweigens plötzlich wieder mit mir.

FEBRUAR 2004: Ich lerne bei einem Projekt in Bonn meine Frau für's Leben kennen. Sie kommt zur Türe rein und ich denke für mich: «Die will ich!» Zwei Wochen später gehen wir am Rhein spazieren.

FEBRUAR 2004: Ich fühle mich wie im Himmel in der bolivianischen Salar de Uyuni. Ein Gefühl vollkommener Freiheit.

FEBRUAR 2004: Ich spreche das erste Mal an einer Schauspielschule vor. Ich will zwar erst mein Abitur machen, bin aber neugierig, weil ich das schon seit Jahren machen will. Ich spreche «Hexenjagd» und «Gollum» vor. Die Dozenten sagen mir, dass ich nichts kann und dass ich mir was anderes suchen soll. Als ich aus dem Raum hinausgehe, weiss ich wirklich, dass ich Schauspiel studieren will. Aber erst mache ich mein Abitur.

FEBRUAR 2004: Ich oute mich zum erstem Mal: bei meinem besten Freund. Wir sitzen in einer Kneipe, das Thema kommt in die Richtung, wir beide merken es, keiner sagt was, der Abend wird länger, sie räumen um uns schon die Stühle auf den Tisch. Endlich fragt er mich. Im Auto vor seinem Haus müssen wir dann noch zwei Stunden zu Ende reden.

MÄRZ 2004: Zum ersten Mal in meinem Leben eröffne ich einer Frau meine Liebe.

MÄRZ 2004: Ubaldo trennt sich von mir.

MÄRZ 2004: Vorsprechen an der Ernst Busch Schule. Die Prüfer sagen über den Elektra-Monolog «Theatergeheule».

MÄRZ 2004: Ich erzähle meinem Vater davon, er weint für mich.

MÄRZ 2004: Es ist Sonntagabend, meine Mutter bügelt, mein Vater raucht Pfeife und sieht fern, ich sitze am PC. Meine Mutter sagt, dass sie sich trennen und dass sie auszieht. Alles ergibt plötzlich Sinn, alles bricht zusammen. Ich weine, gleite vom Stuhl auf den Teppich. Meine Mutter hält mich fest im Arm, mein Vater ist erstarrt.

MÄRZ 2004: Ein unvermittelter Flashback erinnert mich an ein Ereignis, das ich schon längst verdrängt habe.

APRIL 2004: Ich bin erstmals wieder in New York und stehe vor den Trümmern der Twin Tower, die Schäden sind ringsherum immer noch drastisch zu sehen. Erinnerungen kommen auf an die vielen Besuche früher und die vielen Erlebnisse, die ich dort hatte. Und gleichzeitig sehe ich die Bilder des Attentats vor mir, als ob ich sie gestern im Fernsehen gesehen hätte.

APRIL 2004: Ich fliege alleine nach Manchester, um dort ein halbes Jahr als Aupair zu arbeiten, und werde von der Familie Langdon unglaublich herzlich aufgenommen.

APRIL 2004: Er hat uns erwischt. Laura fängt an zu weinen und ich denke nur, jetzt können wir die ganzen Klamotten nicht behalten.

APRIL 2004: Im Fernsehen ein Tanzstück von Pina Bausch: Am liebsten würde ich sofort meine Koffer packen, um in Wuppertal von dieser faszinierenden Frau zu lernen.

APRIL 2004: Mit den anderen aus meiner neuen Klasse laufe ich in Richtung Wald zur Geburtstagsparty. «Was hörst du für Musik?» – «Björk... Kennst du wahrscheinlich nicht.» – «Natürlich weiss ich, wer Björk ist!»

APRIL 2004: Ich verliere eine liebe Person an den Wahnsinn.

MAI 2004: Die Hotelanlagen an der Küste verschwinden langsam am Horizont. Der Weg wird immer schlechter und ich muss zu Fuss weiter. Nach wenigen Metern tauchen die ersten römischen Säulen auf. Mitten im Wald, völlig verwachsen und verfallen. Kein Mensch weit und breit.

MAI 2004: Ich bin schwanger, will es aber nicht sein. Nicht von diesem Mann, der mich fasziniert, aber in einer anderen Welt lebt. Nicht jetzt, wo ich mein Studium abbrechen will. Abbruch in einer Klinik. Neben mir wacht eine junge Muslima auf, die heimlich abgetrieben hat. Aufgeregt erzählt sie mir alles. Die Nachbarin hat ihr geholfen, mit den Versicherungskosten und so. Hinterher bin ich erleichtert.

MAI 2004: Ich sitze in einer Küche. Die Pizza wird kalt. Der Pianist will das Kind nicht.

MAI 2004: Ich lese Bücher von David Grossmann und Haim Omer.

MAI 2004: Mein erstes Enkelkind kommt auf die Welt: Betty Liv.

MAI 2004: Auf einem Kirchenturm in Hamburg lerne ich eine wundervolle Serbin kennen. Die Beziehung hält nicht lange. Die Erkenntnis, dass die Liebe überall und jederzeit antreffbar sein kann, wird bleiben.

MAI 2004: Ich bestehe die Gymiprüfung. Der einzige Weg, einem weiteren Jahr Mobbing in der Sekundarschule zu entkommen.

MAI 2004: Coming-out

JUNI 2004: Lou kommt zur Welt – nun haben wir die zwei Buben, die wir immer wollten.

JUNI 2004: Abfuhr auf Liebesgeständnis II

JUNI 2004: Zum ersten Mal singe ich neben dem Klavier von Baptiste, unbeholfen, überrascht von mir selber.

JUNI 2004: Mein bester Freund Florian und eine gute Freundin kommen zusammen. Bevor die beiden es mir persönlich sagen können, kräht Nils mir die Neuigkeit übers Telefon ins Ohr. Ich kann nichts sagen. Mein Traum, Florian vielleicht doch noch ganz für mich zu haben, zerplatzt. Ich muss zum ersten Mal wegen eines Typen weinen.

JUNI 2004: Meine Tochter wird an ihrem Geburtstag zum ersten Mal Schweizermeisterin Dressur Junioren. Ich habe für ihre Kür Musik von Delibes, Brahms und Smetana ausgewählt.

JUNI 2004: Ich sitze auf dem Fensterbrett, meine Beine baumeln hinab. Ich schaue in die Tiefe. Was wäre wenn ich springen würde? Wer würde mich vermissen? Ich schliesse die Augen und stelle mir vor wie das Leid aufhört und ich endlich frei bin.

JULI 2004: Von meinem Hotelzimmer im Pitztal rufe ich Klara an. Sie sagt mir endlich die Wahrheit.

JULI 2004: Zufälligerweise fällt mir ein Erzählstoff für ein Buch zu. Ich vertiefe mich sofort darin.

JULI 2004: Ich erlebe auf «meiner» Ranch in Wyoming einen Sommer, der mich unglaublich glücklich macht.

JULI 2004: Durch eine Affäre mit seiner Schwester lerne ich meinen Erzfeind richtig kennen. Es ist der Anfang einer intensiven Freundschaft.

JULI 2004: Ich komme nach einem Jahr aus Panama zurück, stehe in der Küche mit meiner Mutter, sie hat Krebs und wird am nächsten Tag operiert, wir bleiben die ganze Nacht wach.

JULI 2004: Die ganze Nacht durchgetanzt. Berauscht und bekifft mit dem Fahrrad direkt zur Schule. Ich stinke nach Bier.

JULI 2004: Mein erster LSD-Trip an einer Goa-Party irgenwo auf einem Berg: Ich fühle mich wie ein kleines Kind, ich betrachte neugierig und staunend, was um mich herum geschieht. Die Zeit scheint viel langsamer als sonst zu vergehen, die Natur sieht wunderschön, farbig und lebendig aus. Ich studiere die Menschen, manche kommen mir sehr seltsam vor in ihrem Verhalten und ihrem Aussehen. Ich fühle mich wie Alice im Wunderland.

JULI 2004: Ich höre zufällig, wie meine Schwester unsere Tante zu einem Gespräch in ein Zimmer bittet. Wir haben vereinbart, dass wir Schwestern ihr zum Dank für ihre Hilfe bei der Pflege unserer sterbenden Mutter ein Schmuckstück schenken wollen. Ich stehe auf und komme mit. Da wirft mir meine Schwester einen hasserfüllten Blick zu.

JULI 2004: In der Nacht sitze ich bei weit geöffneter Terassentür zusammen mit meiner Mutter in eine Wolldecke gewickelt auf der Bettkante. Sie lehnt den Kopf an meine Schulter, und wir sind eins. Jetzt. Denn wir beide wissen, dass sie stirbt.

JULI 2004: Erstes Mal

AUGUST 2004: Auf der Strasse sehe ich von weitem einen verunfallten Fahrradfahrer. Erst aus nächster Nähe erkenne ich, dass es sich dabei um meinen Vater handelt, der mir verwirrte Fragen stellt. Die Ambulanz kommt, ich stehe unter Schock und will nicht mit ins Spital gehen.

AUGUST 2004: Ankunft in Indien. Das Land mit seiner Armut, dem Chaos, der Unordnung, den Menschenmassen, Gerüchen und Farben schwappt wie eine Welle über mich und zieht mir den Boden unter den Füssen weg.

AUGUST 2004: Der erste Tag in der 5. Klasse. Meine Banknachbarin zeichnet und ich schaue wie gebannt zu. Wir werden engste Freundinnen und zeichnen zusammen wie wild. Am Ende der 7. Klasse weiss ich, dass ich mich vertieft mit Kunst beschäftigen möchte.

AUGUST 2004: Bei Sonnenaufgang kommt meine Tochter zur Welt.

AUGUST 2004: Ich verliebe mich. Es geht ums Begehrt werden, um Aufmerksamkeit und Sex. Ich liebe meinen Mann und will unsere Beziehung nicht aufs Spiel setzen. Ich hatte noch nie einen anderen und denke nur ans Ausprobieren. Wie naiv, mit 42!

AUGUST 2004: Bei meinem Auslandsstudium in Frankreich lerne ich Tereza kennen. Sie ist aus Tschechien und lebt im gleichen Studentenwohnheim wie ich. Ich bin sofort verliebt und nach langem Hin und Her werden wir schliesslich ein Paar.

AUGUST 2004: Jahrelang ist nichts passiert zwischen uns. Freundinnen halt. Nach dieser Nacht in den Ferien ist alles anders.

SEPTEMBER 2004: Ich gehe durchs Gate, für ein Jahr weg. Mein Vater weint, er ist nun ganz alleine; meine Mutter ist stark, sie lässt mich frei schwimmen.

SEPTEMBER 2004: Ich lebe zum ersten Mal in meinem Leben alleine, weil mein Sohn aus der gemeinsamen Wohnung auszieht.

SEPTEMBER 2004: Fred und ich beziehen unsere erste gemeinsame Wohnung. Auf der Oberbaumbrücke denke ich, dass man in Berlin alt werden könnte.

SEPTEMBER 2004: Ich verliebe mich. In einen Mann. Er ist zehn Jahre älter, weiss genau, was er tut und schläft mit mir. Er ist nicht in mich verliebt und lässt mich fallen. Ich beschliesse, vor seiner Haustür zu warten, er macht nicht auf, nach vier Stunden gehe ich. Ich mache ihm eine Szene am nächsten Tag in der Stadt.

SEPTEMBER 2004: Und immer noch immer inniger. Michi und ich beschliessen nochmals, nicht zu heiraten.

SEPTEMBER 2004: Ich esse Pizza in Rom, die ganze wilde Kompanie ist da. Wir singen italienische Sozialisten-Lieder. Fa schaut mich nicht an, aber unsere Füsse begegnen sich.

SEPTEMBER 2004: Endlich habe ich gefunden, was zu mir passt: Ich beginne das Studium für soziokulturelle Animation.

SEPTEMBER 2004: Ein Abend, an dem wir alle beisammen sitzen: «Wir sind pleite!» – so die Worte meiner Stiefmutter. Und mein Vater hat Krebs. Ich weiss nicht, was das bedeutet.

OKTOBER 2004: Krankenhaus, Operation, Zwangspause.

OKTOBER 2004: Wir drei Schwestern geleiten Mama in ein anderes Sein. Sie vermittelt uns, dass alles gut ist und wir nun an der Reihe sind zu lieben, zu sorgen, Verantwortung zu übernehmen.

OKTOBER 2004: Ich bin vier Monate zu Gast an einem evangelischen College in Indien, im Wohnheim für junge Frauen. Die Fenster sind vergittert, nachts auch der Hauseingang. Die jungen Frauen, die hier leben, dürfen keine Telefone besitzen und laden ihre Akkus heimlich an blanken Kabeln auf. Eine trifft sich heimlich mit ihrem Freund: Er ist Moslem, sie Katholikin. Sie könnte von der Schule fliegen, dabei sind beide Familien schon mit der Hochzeit einverstanden. Ich habe Sondergenehmigung, bis 19 Uhr frei umherzulaufen, fühle mich aber eingesperrt. Nach einem Disput mit der Schulleiterin laufe ich weg.

OKTOBER 2004: Ich beginne, Handball zu spielen. Der direkte, unzimperliche Kontakt mit Menschen macht mich stärker und selbstbewusster.

NOVEMBER 2004: Das entstehende Projekt «Erfahrungswerkstatt» für junge Menschen wird wegen Sparmassnahmen an der Schule gestrichen, ebenso das «Darstellende Spiel».

NOVEMBER 2004: Ich sitze am Computer, als meine Mutter hereinkommt und erklärt, dass es einfach nicht realistisch wäre, mir dieses Pferd zu kaufen. Ich verstehe.

NOVEMBER 2004: Ich sitze im Nachtzug an der Bar und starre ins vorbeiziehende Dunkel hinaus. Im Abteil liegen meine auf zwei Gepäckstücke reduzierten Habseligkeiten. Vor mir liegt Berlin und die Suche nach Wohnung und Arbeit.

NOVEMBER 2004: Meine Vergangenheit holt mich ein. Ich brauche Hilfe. Ich lerne Emanuelle kennen, eine spirituelle Lehrerin. Ich fühle mich von ihr so verstanden und gesehen wie noch nie in meinem Leben.

NOVEMBER 2004: Ich fahre mit meiner jüngeren Nichte Sarah im Zug. Sie erzäht von ihrer Mutter (meiner Schwester), von ihrer älteren Schwester Jana, von Martin, dem Partner ihrer Mutter, dann kommen wir auf Oma und Opa (geschieden) zu sprechen. Ihr Fazit: «Ich glaube, wir sind die einzig Normalen in der Familie.»

NOVEMBER 2004: Ich nehme an einer Schreibwerkstatt im Zentrum «Karl der Grosse» in Zürich teil und schreibe: «Ein Teil von mir / Krempel / über Jahre / in meinem Haus / gesammelt, archiviert und gestapelt / wozu?» Einen Monat später trennen sich Jean und ich nach 31 gemeinsamen Jahren.

NOVEMBER 2004: Ich ziehe das erste Mal nach Berlin. Ich habe drei Affären gleichzeitig und eine davon trägt mit mir zwei Koffer und einen Pappkarton aus dem Auto in die neue Wohnung. Anschliessend essen wir Falafel und er breitet die Arme aus: «Willkommen in der neuen Heimat». Danach ruft er nicht wieder an.

DEZEMBER 2004: Zum ersten Mal verliebe ich mich in eine Frau und alles wird verwirrend.

DEZEMBER 2004: Meine erste längere Beziehung zerbricht, nachdem er straffällig geworden ist. Er sitzt im Waaghof. Ich fühle mich wie im falschen Film und habe die Schnauze voll.

DEZEMBER 2004: Ein Geistheiler befreit mich von einem jahrelangen schweren Leiden. Gleichzeitig überflutet der Tsunami grosse Teile Asiens. Ich suche Mittel und Wege, um den Menschen in Sri Lanka zu helfen.

DEZEMBER 2004: Meine Schwester wird Mutter von Zwillingen. Ich werde Götti von Amélie. Ich bin so was von stolz und liebe mein Gottemeitschi seit der ersten Sekunde.

DEZEMBER 2004: Ich weiss, dass meine Oma in der Nacht sterben wird. Sie liegt im Wohnzimmer und ich schlafe.

DEZEMBER 2004: Verdabbio. Nach fast drei Monaten lehrt mich nun Baptiste endlich richtig gut Trockenmauern. Ich stehe vor meiner schneebedeckten Mauer. Vor zehn Tagen noch oben ohne, frieren nun meine Hände wie noch nie zuvor.

DEZEMBER 2004: Ich presse meinen Sohn auf die Welt.

DEZEMBER 2004: Mit Freunden beginne ich einen Filmdreh, nur für uns, nur zum Spass. Anderthalb Jahre später läuft der Film bundesweit im Kino.