2002

JANUAR 2002: Peter sagt mir in der Küche, ich dürfe in sein Restaurant kommen, wann immer ich wolle. Fünf Jahre später fange ich an, dort zu arbeiten.

JANUAR 2002: Ich habe die Nase voll vom Anwaltsbüro und kündige.

JANUAR 2002: Ich feiere meinen fünfzigsten Geburtstag mit einem grossen Fest mit Freunden und Familie in der Freimaurer-Loge zur Einigkeit.

FEBRUAR 2002: Ich bemerke, dass mich die eigene künstlerische Arbeit in die Irre führt. Ich will mehr von anderen auf der Bühne sehen.

FEBRUAR 2002: Lauftraining auf der Strasse parallel zum Meer weit oberhalb der Cinque Terre. Nach eineinhalb Stunden Rennen, in der Steigung, wo eigentlich die Krise hätte kommen sollen, kommt das noch nie dagewesene, eindeutige Flow-Erlebnis. Mühelos renne ich an Alberto vorbei. Ich seh weit unten die Farben des Meers und bin vom Glück durchtränkt, dem Weinen nahe. Es ist einfach nur schön, es rennt von selbst.

FEBRUAR 2002: Nach gut einer Woche einsamen Wanderns in patagonischen Fjorden sehe ich am Boden einen Schatten vorbeiziehen. Ich schaue hoch und im Gegenlicht der nachmittäglichen Sonne zieht ein Kondor über mir vorbei.

FEBRUAR 2002: Ich laufe das erste Mal wieder alleine den Strassen von Luzern entlang. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, aus eigener Kraft laufen zu können. Ich denke: Warum applaudiert mir niemand?

MÄRZ 2002: Gemeinsam mit den behinderten Frauen von der ProCap-Frauengruppe, die sich seit zehn Jahren regelmässig in Olten trifft, gründe ich Avanti Donne, die Kontaktstelle für Frauen und Mädchen mit Behinderung.

APRIL 2002: Ich reise für eine längere Zeit auf «meine» Feuerinsel.

APRIL 2002: Ich spiele den vorderen Teil eines Pferdes in der AG Theater und bin rasend verliebt.

APRIL 2002: Erstes Mal betrunken

APRIL 2002: Ich entscheide mich für die Beendigung meines bisherigen Berufslebens.

APRIL 2002: Ich stehe auf dem Pausenplatz. Sarah sagt mir vor allen anderen ins Gesicht, dass ich mit meinen Rollschuhen an den Füssen doof aussehe. Ich schäme mich und fühle mich gedemütigt.

MAI 2002: Wir stehen auf der Mauer im Garten. Mutprobe: Wer springt, gewinnt. Danach wird mir klar, wer springt hat nur Brennesselstiche. Triumphierend kratze nur ich meine Arme und Beine wund.

MAI 2002: Nach dem Tod meines Mannes werde ich im Dorf in eine Gemeinschaft von Frauen aufgenommen. Diese ist natürlich im Wandel, eine stirbt, eine andre kommt hinzu – aber es ist ein neuer wichtiger Freundeskreis für mich.

MAI 2002: Video Will Never Ever Kill the Radio Star. Der erste Tag im Studio. Sie zeigen mir das Mik der Redaktoren, wo ich arbeiten werde. Alles, wofür ich aber wirklich Augen habe, ist der Platz vis-à-vis.

MAI 2002: Ich schaffe die Aufnahmeprüfung an den Videovorkurs der Kunsthochschule Zürich.

MAI 2002: Ein sonniger Frühlingsabend, ich sitze in der S-Bahn, schreibe in mein Notizheft. Vor ein paar Stunden habe ich erfahren, dass mein Vater gestorben ist. Ich fühle nichts.

JUNI 2002: Ich kaufe einen Schwangerschaftstest, schaue auf die Uhr. Es ist Mittag. Manuel kommt wohl gerade in Bangalore an.

JUNI 2002: Meine beste Freundin erzählt mir heimlich, dass sie die Klasse wiederholen muss. Für mich bricht eine ganze Welt zusammen, ich habe Angst, dass wir uns dann aus den Augen verlieren und keine Freundinnen mehr sein werden.

JUNI 2002: Ich ziehe zusammen mit meiner besten Freundin Anna in unsere erste Studenten-WG. Wir streichen jedes Zimmer in einer anderen Farbe und schieben unsere Möbel zusammen. Wir finden es sehr gemütlich.

JUNI 2002: Sie küsst mich.

JUNI 2002: Seit zwei Jahren steht in meinem Schülerkalender für Ende Juni: «Endlich hier wegziehen.» Und alles wird gut.

JULI 2002: Ich halte mein Fähigkeitszeugnis in den Händen.

JULI 2002: Meine Eltern wecken mich voller Aufregung und ich verstehe nicht wieso. Es ist mein erster Schultag.

JULI 2002: Meine Tanzlehrerin sagt beim Feedbackgespräch zu meiner Prüfung «You should study choreography!» Meine spontane Antwort ist «NEIN». Ich weiss nicht, weshalb dieses Nein so klar für mich ist, aber es ist so.

JULI 2002: Ich verabschiede mich von meiner Familie und steige in den Zug nach Hamburg. Ich schaue aus dem Fenster und winke ihnen.

JULI 2002: An der Expo 02 werfe ich den Ehering meiner Eltern in den Bielersee. Damit habe ich die Scheidung meiner Eltern für mich abgeschlossen.

JULI 2002: Ich ziehe nach Brienz und fühle mich von Anfang an zu Hause.

JULI 2002: Die Waldhütte, in der ich die meiste Zeit mit meinen Freunden verbracht habe, steht in Flammen. Wir stehen tatenlos daneben und mit ihr verbrennt auch ein Abschnitt meines Lebens. Nur ein paar Wochen später ziehe ich nach Frankfurt und wir sehen uns nie wieder. Das ist auch gut so.

JULI 2002: Ich bekomme meinen Traumstudienplatz.

AUGUST 2002: Ich höre Bremsen quietschen und ein Alarmsignal, mein Auto dreht sich, ich sehe einen Bürgersteig mit Menschen, eine Betonsäule und denke: «Das ist das Letzte, was Du siehst.» Mein Auto kommt zum Stehen. Die Strassenbahn hat die Beifahrertür so eingedrückt, dass das verbogene Blech gerade dabei ist, sich in meinen Ellbogen zu bohren. Ein kleiner Ritzer, mehr nicht. Der Wagen ist ein Schrotthaufen.

AUGUST 2002: Ich spiele zum ersten Mal in einem Stück in Berlin. Jetzt bin ich «wow», denke ich.

AUGUST 2002: Ich blicke zum ersten Mal in die Augen meiner grossen Liebe.

AUGUST 2002: Erica Whyman, die junge Intendantin des Gate Theatre in London, haut mich um. So jemand will ich einmal werden.

AUGUST 2002: Mitten in der Nacht und nach zwanzig Stunden Reise lande ich in Houston, Texas. Im Flughafen ist es kühl – doch draussen ist die Luft so heiss, feucht und dick, dass man sie zerschneiden könnte. Mein Austauschjahr beginnt.

SEPTEMBER 2002: Ankunft am Westbahnhof: Ein Jahr in Wien erwartet mich, ich bin aufgeregt und freue mich. Die beste Zeit meines Lebens beginnt.

SEPTEMBER 2002: Unsere Tochter wiegt bei ihrer Geburt kein Kilo. Sie überlebt gesund.

SEPTEMBER 2002: Wir machen eine Familienreise in den Nahen Osten, wo meine Eltern aufgewachsen sind. In der Nacht, bevor wir den Abgeordneten eines wichtigen Vereins treffen, träume ich, dass er nach Strassburg geht. Beim Treffen erfahren wir, dass er tatsächlich in ein paar Tagen nach Strassburg reist, dreitausend Kilometer weg von hier.

OKTOBER 2002: In Lausanne miete ich meine erste Wohnung. Mein Französisch reicht kaum, um dem Übernahmeprozedere zu folgen. Dafür spüre ich, dass ein neues Leben beginnt.

OKTOBER 2002: Ich sage zu Mama, dass ich mit Papa schlafen will. Mama wird böse. Ich verstehe nicht warum.

OKTOBER 2002: Ich beginne mein Studium der Elektrotechnik. Endlich ein Platz wo ich mich wohl fühle. Jetzt macht das Lernen Spass, und unter den wenigen weiblichen Mitstudentinnen finde ich Freundinnen fürs Leben.

OKTOBER 2002: Ich habe eine Hauptrolle als Schauspieler im Jugendklub; trotz Erfolg beschliesse ich, Abschied von der Bühne zu nehmen. Ich möchte Lyriker werden.

OKTOBER 2002: In Bolivien betrüge ich meine Freundin. Es musste sein. Meine Freunde denken anders.

OKTOBER 2002: Benni nimmt mir meine Zipfelmütze weg und füllt sie mit Herbstblättern. Zornig schimpfe ich so lange mit ihm, bis er die Mütze schliesslich leert und sie mir irritiert zurückgibt. Ich fühle mich stark. So schnell lasse ich mich ab jetzt nicht mehr hänseln.

NOVEMBER 2002: Wir kriegen unseren ersten Hund. Ich liebe ihn abgöttisch.

NOVEMBER 2002: Ich helfe auch meinem zweiten Sohn aus dem Badewannenwasser auf die Welt. Er schreit, schielt und ist herzzerreissend.

DEZEMBER 2002: Ich lese «Leonce und Lena» und lerne dabei den Mann meines Lebens kennen.

DEZEMBER 2002: Ich fahre mit meinem späteren Mann über Silvester weg. Noch ist alles unbeholfen und fremd. Wir ahnen nicht, dass es ernst sein wird.