1999

JANUAR 1999: Klassenfahrt zum Skifahren in Tschechien. Meine erste grosse Liebe sagt mir, dass sie mich nur als Freund mag. Ich bereue, dass ich mir zuvor ihren Namen in den Oberarm geritzt habe, und rase die nächste Piste bergab. Ich überlebe den Sturz unverletzt.

JANUAR 1999: Ich lerne B. kennen und erfahre das erste Mal Unterstützung für meine Lebenspläne. Sie glaubt an mich.

JANUAR 1999: Jürgen steht in der Tür und sagt, Tim ist tot. Wir laufen durch die Nacht zu Jan.

JANUAR 1999: Mein Bruder erkrankt akut und muss ins Krankenhaus. Meine Tante, die 600 km entfernt lebt, wacht nachts auf und spürt etwas Schlechtes. Erst am nächsten Morgen erfährt sie, dass tatsächlich etwas passiert ist. Ich mache mir erstmals Gedanken über nicht Erklärbares und Spiritualität.

FEBRUAR 1999: Nach einem Gespräch mit Manel und anderen in einer Theaterbar weiss ich, dass Seiltänzerin mein Beruf werden wird.

FEBRUAR 1999: Ich verliebe mich unglücklich und ein guter Freund nimmt sich das Leben. Er geht ins Wasser und erfriert.

FEBRUAR 1999: Zusammen mit scheinbar lauter glücklichen, angehenden Lehrern hebe ich meine Finger zum Schwur: «So wahr mir Gott helfe.» Ich fühle mich wie im Theater. Nur krasser.

FEBRUAR 1999: Ich laufe mit dem grössten Frieden in mir durch die Stadt, springe und lache und will jedem erzählen, wie diese neue Liebe mich glücklich macht.

MÄRZ 1999: Ich träume, dass ich in einem Labyrinth von einer Lichtkraft in die richtige Richtung gelenkt werde.

MÄRZ 1999: Ich löse den Vertrag für die berufliche Ausbildung auf und beschliesse das Abitur zu machen. Meine Schwester redet daraufhin eine Woche lang nicht mit mir – sie hält es für die falsche Entscheidung.

MÄRZ 1999: Mein Sohn wird geboren. Seit diesem Tag weiss ich, was Liebe ohne Wenn und Aber bedeutet.

MÄRZ 1999: Zufällig kaufe ich mir ein eigenes Pferd und nicht zufällig buche ich einen Flug nach San Francisco.

MÄRZ 1999: Pontresina. Ich nerve mich, dass ich mich einen steilen Buckelpistenhang nur runterquälen kann. Nehme allen Mut zusammen und fahre beim zweiten Versuch, ohne an der Kante zu bremsen, mit Schwung in den Hang. Bin überwältigt. Jetzt kann ich Skifahren.

MÄRZ 1999: Meine Tochter ist auf die Welt gekommen. Da hat man keine Worte mehr.

MÄRZ 1999: Wir stehen beide zur gleichen Zeit vor der Eingangstür und wissen noch nicht so recht, wie weiter. Aber wir sind schnell.

APRIL 1999: Meine Mutter nimmt sich das Leben. Ich warte trotzdem darauf, dass sie jeden Moment zur Tür herein kommt.

APRIL 1999: Ich komme frühmorgens aus dem Spital heim und stelle mich unter die Dusche. An jedem Bein gibt es eine Stelle, die brennt; erst jetzt merke ich, dass sich meine Frau bei der Geburt unserer Tochter mit den Fersen dort abgestützt hatte.

APRIL 1999: Nach jahrelanger Arbeit auf fremden Bauernhöfen habe ich zum ersten Mal meinen eigenen Garten. Ich werde Selbstversorgerin und betreibe Tauschhandel.

APRIL 1999: Mir bestätigt sich die nachhaltig gesundheitsfördernde Wirkung der Franz-Xaver-Mayr-Kur, der ich mich seit 1987 alle zwei Jahre unterziehe: Das dreiwöchige kontrollierte Fasten bewahrt mich vor einem «Burnout».

APRIL 1999: Ich erhalte einen Arbeitsplatz in Zürich, meiner Traumstadt. Dort sehe ich die Inszenierungen von Christoph Marthaler und bin total verzaubert. So hatte ich mir im tiefsten Innern Theater vorgestellt.

APRIL 1999: Mein zweiter Sohn wird geboren. Ich bin unendlich dankbar für dieses Kind. Er schläft einen Tag lang in unserem Garten auf dem Tisch – er sieht aus, als trüge er das Wissen der Welt in sich.

MAI 1999: Meine Cousine und ich rennen durch das hohe Gras, verstecken uns vor phantastischen wilden Tieren: Die Welt liegt uns zu Füssen und wir formen sie, wie sie uns gefällt. Wir bauen Gedankenschlösser mit Pferdeställen und malen uns grell-bunte Abenteuer aus, bis wir abends todmüde ins Bett fallen.

JUNI 1999: Ich verabschiede mich von Bern. Ich stehe auf der Kirchenfeldbrücke und stelle mir die Frage, ob ich einmal hierher zurückkommen werde und denke: Nicht jetzt.

JUNI 1999: Auf dem Maiensäss oberhalb Chur: Erster Einsatz als ungelernter Hirte von hundert Rindern.

JUNI 1999: Nach fast zehn Jahren Studium erhalte ich mein Diplom an der Musik-Akademie der Stadt Basel. Trotz langem Hin und Her, ob ich das richtige Instrument spiele, habe ich es nicht von der Wettsteinbrücke in den Rhein geworfen – und mich auch nicht.

JUNI 1999: Wir stehen am Flughafen, warten auf meinen Vater, der uns nach unserer Indienreise abholen wollte. Nach längerem Suchen sehen wir einen grossen Mann, er hält ein Schild in der Hand, darauf steht unser Familienname. Später erfahren wir, dass mein Vater bei einem schweren Autounfall fast gestorben wäre.

JULI 1999: Michi versucht noch alle bühnenbildnerischen Vorkehrungen für die Premiere zwei Tage später zu treffen, aber Amelie will um Mitternacht schon im gemeinsamen Wohnraum zur Welt kommen. Und wenige Minuten später wird sie von allen innig begrüsst: Lena, Monika, Meret, Thomas, Jordi.

JULI 1999: Mein Leben ist perfekt. Ich habe eine beste Freundin, meine Klasse ist toll, ich singe in einer Band und habe einen Tanzpartner. Dennoch gehe ich ins Austauschjahr nach Amerika.

JULI 1999: Ich beschliesse, auf eine Boarding School in die USA zu gehen, und bin fast ein Jahr lang weg von zu Hause.

JULI 1999: Ich trenne mich von Axel.

JULI 1999: Ich bin in Kuba, lerne Armut kennen und realisiere, dass ich mich zum ersten Mal so richtig verliebt habe, weil ich dort sein will, wo Simon ist. Und Simon ist in Bern.

JULI 1999: Zum zweiten Mal bin ich während meiner Schwangerschaft im Krankenhaus. Ich darf kurz mit meinem Mann in die Stadt. Als wir zurückkommen, teilt mir die Ärztin mit, dass sie das Kind jetzt gleich holen werde. Bis zum errechneten Geburtstermin wären es noch sechs Wochen. Ich habe Angst.

JULI 1999: Ich verliebe mich im Sommerlager unsterblich. Fabian ist älter. Ich weiss nicht was mit mir im Zelt geschieht.

AUGUST 1999: Er beobachtet mich mit gütigen, schmunzelnden Augen an einem sonnigen Sonntag im Café beim Frühstück und zeigt mir, wie Liebe geht.

AUGUST 1999: Mein Eltern trennen sich. Ich denke, dass das alles kein Problem ist. Ich irre mich.

AUGUST 1999: An ihrem ersten Schultag erkläre ich meiner ersten Schulklasse die Sonnenfinsternis, die diese Woche geschehen wird. Es ist so heiss im Klassenzimmer, dass ich und alle Eltern nass geschwitzt leiden.

AUGUST 1999: Ich bin magersüchtig. Die Therapeutin und meine Mutter verbieten mir bei einem Fun Run mitzumachen. Ich weine lange und esse danach so viel ich kann.

AUGUST 1999: Ich sitze mit meinen Arbeitskolleginnen auf einem Felsen in Connemara, wir trinken Cider, sehen auf drei Seiten Meer und im Hintergrund die Twelve Bens. Die Sonne malt Goldflächen aufs Wasser.

AUGUST 1999: Ich beginne meine Ausbildung als Rechtsanwalts- und Notariatsfachangestellte, weil ich von niemandem abhängig sein und mein eigenes Geld verdienen will.

AUGUST 1999: Ich verdiene mein erstes richtiges Geld. Allein das Trinkgeld reicht für ein bombiges Nachtessen im teuren Restaurant! Wow, ich bin erwachsen!

SEPTEMBER 1999: Ich lerne an einem Fest in Bern meine zukünftige zweite Ehefrau kennen. Sie gefällt mir sofort, braucht aber ihrerseits noch etwas Zeit, sich für mich zu erwärmen.

SEPTEMBER 1999: Eveline Matter bringt mir den E-Akkord auf einer Gitarre bei.

SEPTEMBER 1999: Zum ersten Mal in meinem Leben getraue ich mich, den weiten Weg zur Klavierstunde ganz alleine zu gehen. Ich bin stolz.

OKTOBER 1999: Ein neuer Job: Für meinen Wohnkanton darf ich ein Konzept für den Umgang mit Naturgefahren aufbauen.

OKTOBER 1999: Ich bekomme den gleichen Blick von unserem gerade geborenem ersten Sohn, der auf meiner Brust liegt.

OKTOBER 1999: Aus dem Bauch heraus sage ich zu, als Michi mich fragt, ob ich nicht einen Platz in seiner Ateliergemeinschaft haben möchte. Der Boden ist hellblau gestrichen.

OKTOBER 1999: Im VW-Bus fahre ich ohne Führerschein drei Monate quer durch Schottland und verpasse drei Chancen, meinen psychopathischen Liebhaber über die Klippen zu stossen. Ich traue mir einen Mord zu und trenne mich schliesslich von ihm, wie auch von meinem eigentlichen Freund.

NOVEMBER 1999: Meine Mutter stirbt nach einem Unfall. Schwester und Schwager holen sie nach Hause. Ich berühre erstmals eine Leiche. Wir haben Zeit, uns zu verabschieden. Ich bin traurig und gestärkt zugleich.

NOVEMBER 1999: Morning Has Broken. Ich bin für einen Kongress zum ersten Mal in Basel und fahre mit dem Tram über den Rhein. Alles badet in den ersten, goldenen Sonnenstrahlen. Dieses Bild! Ich weiss, hier lande ich früher oder später.

NOVEMBER 1999: Meine erste kleine Liebe ist Vergangenheit. Vor allem ein Eindruck bleibt: Ich hatte nie den Mut, sie zu küssen.

NOVEMBER 1999: Meine über alles geliebte Grossmutter stirbt.

NOVEMBER 1999: Ich initiiere mein erstes eigenes Regieprojekt.

DEZEMBER 1999: Ich stehe am Silvesterabend neben Ross auf der Lambert Bridge. Feuerwerk am Himmel und in meinem Bauch. Alles ist möglich.

DEZEMBER 1999: In meinem eben gegründeten Theaterhaus für innovatives Figurentheater findet die erste Aufführung statt.

DEZEMBER 1999: Meine Eltern und meine Grosseltern trennen sich und ziehen um. Unsere Familie spaltet sich von einem Haus in drei unterschiedliche Wohnungen auf. Mein bester Freund aus der Grundschule wird mein Stiefbruder und Zimmerpartner. Die Familie scheint grösser zu werden, aber mit teilweise noch fremden Leuten. Ich kann mich nicht ganz daran gewöhnen, meine Familie teilen zu müssen.

DEZEMBER 1999: Unter mir geht es viertausend Meter in die Tiefe, ich habe Angst. Eine grosse Wasserschildkröte grüsst im Vorbeischwimmen, ich beruhige mich.

DEZEMBER 1999: Du bekommst ein Kind – das höre nur ich in mir drin, und die Stimme, die das sagt, ist das Weiblichste, das ich je gehört habe. Einen Moment ist es ganz still. Dann antworten all meine Zellen mit Ja.

DEZEMBER 1999: Gemeinsames Feiern mit Freunden auf einem Bauernhof an der Nordsee. Er und ich bleiben länger wach als die anderen. Ich verliebe mich kopflos und ohne Halt.