1998

JANUAR 1998: Jahrhundert-Rausch. Zwei Dutzend wunderbare Menschen. Wir rennen raus, ziehen uns aus, wälzen uns im Schlamm, rennen wieder rein, schlagen Purzelbäume, tanzen, malen, küssen, toben, schwadronieren, vögeln und singen die ganze Silvesternacht durch.

JANUAR 1998: Mit der Verteidigung meiner Dissertation endet mein ewiges Studentendasein. Grosse Erleichterung bei mir und der ganzen Familie.

JANUAR 1998: Ich verliere meine beste Freundin an meinen ersten Freund.

FEBRUAR 1998: «Die Päpstin» – das Buch haut mich um.

FEBRUAR 1998: Ich stehe in meinem Wohnzimmer und bereite mich mit einer Federboa auf das Vorsprechen an Schauspielschulen vor. Dario Fo fluppt, Mastrosimone auch, Molière nicht. Wochen später werden sie genau diesen nehmen...

FEBRUAR 1998: Ich versuche, mich ins World Wide Web einzuloggen, indem ich eine E-Mail-Adresse ins Adressfeld des Windows Explorers tippe.

FEBRUAR 1998: Ich liege in unserem Bett zu Hause neben Frank. Ich halte meine Tochter im Arm, die ich vor fünf Stunden im Krankenhaus zur Welt gebracht habe. Die Sonne scheint auf ihr winziges Gesicht. Sie hat dunkle, weiche Haare. Ich habe eine Familie. Ich bin unendlich glücklich.

FEBRUAR 1998: In einer Pizzeria in Sao Paulo werden wir Zeugen einer Schiesserei. Der Pizzaiolo wird an der Hand getroffen. Alles ist voll Blut.

MÄRZ 1998: Als der Tanz fertig ist, muss ich den Saal von der Blutspur reinigen, die mein operierter Zeh hinterlassen hat.

MÄRZ 1998: Auf meinem Bett sitzend erklärt mir mein Vater die Notlage unserer Familie. Wir blicken beide auf den Teppichboden, als könnte der uns noch helfen.

APRIL 1998: In einer Deutscharbeit sollen wir eine Gedichtinterpretation und einen Vergleich von zwei Liebesgedichten schreiben: Eines von Goethe und eines von Wondratschek. Letzterer ist zu der Zeit mein Lieblingslyriker. Ich schreibe eine Eins und bin sehr glücklich, weil es soviel Spass gemacht hat.

APRIL 1998: Wir heiraten!

MAI 1998: Am Abend vor der Beichte im Zuge der Erstkommunionsvorbereitung liege ich weinend in den Armen meiner Mutter. Ich weiss nicht, was am folgenden Tag von mir erwartet wird.

MAI 1998: Wilhelm steht mir gegenüber und leuchtet wie ein Stern.

MAI 1998: Zwei Wochen nach unserer Hochzeit kommt Max zur Welt – das Leben ist schön!

MAI 1998: Durch Beziehungen finde ich eine neue Stelle in einem Kulturzentrum. Nach vierzehn Jahren Kultur und Beiz fällt mir der Wiedereinstieg mit Anstellung nicht leicht.

MAI 1998: Meine Zweier- ist plötzlich eine Dreierbeziehung.

MAI 1998: Nach einem Jahr ohne festen Wohnsitz finden wir ein altes Haus im Elsass. Wir kaufen es, weil der Garten gross ist und der Flieder blüht.

MAI 1998: Unser Albino-Meerschweinchen Aladin liegt kalt und steif in der mit Stroh ausgefüllten Schuhschachtel. Sein Mund steht halb offen, so dass man seine langen gelblichen Schneidezähne sieht. Wir begraben ihn in unserem Garten.

JUNI 1998: Ich bin verliebt und glücklich wie noch nie – toll!

JUNI 1998: Ich komme von einem Pfadilager zurück. Aber dieses Mal in eine neue Wohnung. Meine Mutter und ich sind aus dem Haus bei meinem Vater ausgezogen. Es gibt eine grosse Terrasse und viel Umschwung.

JUNI 1998: Die Liebesgeschichte mit Nicolas beginnt.

JULI 1998: Wir haben in Basel ein Haus gekauft: Hier können wir nach acht Jahren Afrika nun Wurzeln schlagen. Die Kinder können zu Fuss in die Schule gehen. Wir liegen auf Matratzen in unserem Schlafzimmer, draussen ist es grün. Ich schwebe vor Glück.

JULI 1998: Abflug nach Nordirland: Meine Gastfamilie ist fürchterlich. Nach zwei Wochen ziehe ich aus.

AUGUST 1998: Ich schaue der Frauenriege beim Turnen zu und beschliesse, dass ich mit sechzig noch den Spagat können will.

AUGUST 1998: Meine Mutter rutscht beim Wandern vom Weg ab. Ich schmeisse mich zu Boden, versuche sie wieder zu mir hochzuziehen und kann sie doch nicht halten. Sie rutscht hinab. Nicht weit, und sie verletzt sich auch nicht. Aber ich konnte sie einfach nicht halten.

AUGUST 1998: Kai Bauer stellt mich auf der Foto-Triennale Esslingen Georg Winter vor, bis heute einer meiner Lieblingskünstler und -menschen.

AUGUST 1998: Mein erster Freund macht Schluss, nachdem er mir einen Ring geschenkt hat.

AUGUST 1998: Der Berufsverband der bildenden Künstler nimmt mich als Mitglied auf und mein «Netzwerk» wächst beständig.

AUGUST 1998: Ich tanze das erste Mal bei einem Jugendtanzprojekt und merke, dass ich für den Rest meines Lebens nur noch auf der Bühne stehen will.

AUGUST 1998: Into the Great Wide Open. Meine Eltern fahren mich ins Heim. Dort will ich meine nächsten drei Jahre verbringen. Als wir auf den Vorplatz fahren, packt mich Panik und riesige Vorfreude zugleich. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich wegrennen oder vorausstürmen soll.

SEPTEMBER 1998: Ich bin mit meinem Freund an der Premierenfeier. Er weiss nicht, dass ich ihn betrogen habe. Ich tanze mit dem Neuen, eng. Ich bin so beflügelt, dass mir egal ist, wer was dazu denkt.

SEPTEMBER 1998: Ich begegne Enrique Vargas. Er berührt mich mit seiner Theater-Philosophie und ich darf in seinem Projekt Oraculos mitwirken. Alle meine Sinne werden geschärft. Ich will von nun an Menschen im Theater anders begleiten und führen.

SEPTEMBER 1998: Als ich morgens aufstehe, sehe ich einen hellen Stern am Himmel. Es ist die Venus. Ich lese das Gedicht «Reklame» von Ingeborg Bachmann, dass an meinem Kleiderschrank klebt. Nachdem mich Papa bei Mama abgeliefert hat, entdecke ich auf dem verbrauchten Schreibband der Schreibmaschine Papas Abschiedsbriefe. Wie erwartet, will er sich umbringen. Ich rufe in seinem Büro an, wohin er gefahren ist. Sie sagen, er habe Ferien. Ich alarmiere alle.

SEPTEMBER 1998: Ich beginne meine Ausbildung an der evangelischen Fachschule für Sozialpädagogik Stuttgart. Ich weiss, dass ich mich am ersten Tag nicht zu den netten, braven Mädchen gesellen darf, sondern meinem Leben eine Wendung geben muss. Ich setze mich neben Katja.

SEPTEMBER 1998: Abfuhr auf Liebesgeständnis I

OKTOBER 1998: Ich bin zum ersten Mal verliebt, weiss das aber nicht. Ich kann nur leider nichts sagen und machen, wenn Er da ist.

OKTOBER 1998: Meine Mutter stirbt beinahe an einem Selbstmordversuch.

OKTOBER 1998: Ich komme aus der letzten Prüfung an der Uni Zürich heraus, meine Freundin wartet mit Champagner, ein Gefühl der unendlichen Freiheit überwältigt mich.

NOVEMBER 1998: Ungeschickt: Ich schneide mich tief in den Mittelfinger meiner linken Hand. Der Lehrmeister tobt und der Arzt meint, ich blute wie eine frisch gestochene Sau. Ich schäme mich.

NOVEMBER 1998: Marisa hat Heimweh und wird meine beste Freundin.

NOVEMBER 1998: Ich reite das Pferd eines Freundes, der sich auf der vereisten Treppe den Knöchel gebrochen hat. Der Ausritt endet mitsamt Pferd auf dem spiegelglatten Boden. Resultat: vierfacher Mittelfussknochenbruch. Isn't it ironic?

DEZEMBER 1998: Ich verlasse mein Elternhaus zum ersten Mal für mehrere Monate, um Geld für mein Studium zu verdienen.

DEZEMBER 1998: Ich erhalte im Geschäft eine E-Mail, die mein Leben verändern wird: «Liebster Schatz, der Schwangerschaftstest war positiv. Gruss, Ursula».

DEZEMBER 1998: Axel und ich küssen uns zum ersten Mal.

DEZEMBER 1998: Ich nehme mir vor, mich ganz von Andreas zu trennen.