1997

JANUAR 1997: Mein erstes Kind, mein Sohn, wird geboren. Er ist unfassbar schön. Ich erlebe seine Geburt auch als meine eigene. Ich fühle das Universum lebendig. Ich möchte niederknien vor diesem Wunder.

JANUAR 1997: Ursula fragt mich an einem Sonntagmorgen, ob ich sie heiraten will. Ich fühle Glück, wie ich es nie für möglich gehalten habe.

JANUAR 1997: Obwohl ich am nächsten Tag Schule habe, gehe ich an die Fasnachtsparty. Es lohnt sich, Marco küsst mich draussen vor dem Festzelt zum ersten Mal. Am nächsten Tag schwänze ich den Unterricht.

JANUAR 1997: Ich mache mich selbständig und gründe mein eigenes Planungs- und Beratungsbüro.

JANUAR 1997: Gründung des Kultur-Forums. Vorsitzender bis heute. Es ist uns gelungen, Künstlerinnen und Künstler aus allen Erdteilen in unserem ländlichen Raum zu präsentieren. Wir bieten ein Forum für künstlerische Aktivitäten und setzen Diskussionen über kulturelle Fragen in Gang: über das gute Leben und die Zukunft. Gestaltung einer Kultur-Meile.

JANUAR 1997: Ich besuche eine öffentliche Probe von «Rheingold».

FEBRUAR 1997: Geburt von Severin: Ein zauberhafter Neuanfang für mich und meine Frau.

MÄRZ 1997: Ich plansche alleine in der flachen Ecke der Piscine. Da kommt mein einjähriges Schwesterchen, schnappt sich einen grossen, schlaffen Schwimmring und steigt ins Wasser, wo es tief ist. Auf meinen Ruf springt ein Freund meiner Eltern ins Wasser und fischt sie wieder heraus, bevor etwas Schlimmes passieren kann.

MÄRZ 1997: Ich bestehe die Aufnahmeprüfung an die Schauspielschule.

MÄRZ 1997: In the Air Tonight. Etwa zu zehnt sitzen wir in einem Schulzimmer am Boden im Kreis, in der Mitte ein Brot. Das Rumgebete und Ritualzeugs interessiert mich nicht. Aber da ist was. Keine Ahnung was, aber es bleibt.

MÄRZ 1997: Ich bin stolz auf den Abschluss meiner Weiterbildung zur Musiklehrerin in Bern.

APRIL 1997: Kinder kriegen war nie mein Thema. Ich selbst war kein glückliches Kind. Christian überredet mich, dass wir das schaffen und wie schön das gemeinsame Ziel sei. Die Natur sieht das anders. Vier Fehlgeburten innerhalb von zwei Jahren – jetzt mit Zwillingen. Beim Gentest wird Trisomie 19 festgestellt.

APRIL 1997: Martin ruft mich in London an und fragt, ob ich Gotte werden möchte. Ich freue mich extrem und gehe mit Marcio, Regina und Luciana ins Pub, um das zu feiern.

APRIL 1997: Die langen braunen Haare meiner Mutter fallen auf den Steinboden im Wintergarten meiner Grosseltern, während der Regen auf das Glasdach niederprasselt. Sie will die Haare lieber jetzt wegrasiert und nicht, dass sie ihr langsam ausfallen.

APRIL 1997: Ich sitze neben meinem toten Vater. Die Beatmungsmaschine wurde eben abgestellt. Er ist 73 Jahre alt. Ich lasse den Rucksack aus Lügen, Alkohol und all den anderen Dingen von meinen Schultern rutschen. Ich bin erleichtert und endlich frei.

MAI 1997: Mia wird von der Lehrerin nach Hause geschickt, weil sie nicht aufhören kann zu weinen. Ihr Opa ist gestorben. Ich darf sie nach Hause bringen. Ich tröste sie und fühle sehr mit ihr mit. Ich nehme mir viel Zeit für sie und bin bedacht mit meinen Worten.

MAI 1997: Ich begegne meiner grossen Liebe.

JUNI 1997: Ich heirate zum ersten Mal. Mein Mann ignoriert mich den ganzen Abend. Es ist eine sehr traurige Nacht.

JUNI 1997: Grandioses Scheitern unseres Film-Projektes in Berlin. Ich werde die Finger von der Kunst lassen.

JUNI 1997: Ich schliesse Freundschaften für ein ganzes Leben und lerne Petra kennen: Es ist der Sommer meines Lebens.

JUNI 1997: Mein Freund möchte Film studieren, ich will ihm bei der Aufnahmeprüfung helfen, aber da er mein Konzept schlecht findet, reiche ich es unter meinem Namen ein und werde darauf hin an der ZHdK angenommen.

JUNI 1997: Wir gewinnen im Halbfinal des Fussballturniers gegen die Lehrer.

JUNI 1997: Wir inszenieren am Gymnasium «Ivanov» von Tschechov. Ich spiele in der Saufszene mit Mischa und Lebedev – sehr lebensecht.

JUNI 1997: Ich bin Regieassistentin bei einem Projekt der Regiestudenten. Eine Leseprobe unter freiem Himmel. Die Hauptdarstellerin, auch Regiestudentin, hat eine Glatze und kommt aus der Schweiz. Der Anfang einer langen Geschichte.

JUNI 1997: Ausnahmsweise will ich das «Meieli» schon im Frühsommer reservieren und erhalte dadurch die einmalige Gelegenheit, ein fünfundzwanzig Quadratmeter kleines Haus auf 1840 Meter über Meer zu kaufen.

JUNI 1997: Ich spiele im Schul-Musical mit. Ich kann aber nicht singen, deshalb schreibt meine Lehrerin für mich eine Sprechrolle dazu: der Geier. Ich liebe diese Rolle, bringe das Publikum zum Lachen und habe das kommende Jahr einen neuen Spitznamen: Geier.

JUNI 1997: Im Deutschunterricht, wir diskutieren Hesses Demian. Das ist neu für mich: Ein aufkeimendes Interesse, eine heftige Dringlichkeit – «Der Vogel kämpft sich aus dem Ei».

JUNI 1997: Ich nehme mir eine Auszeit, um mich neu zu orientieren. Mit Fahrrad und Zelt fahre ich von meinem Wohnort aus durch Frankreich über die Pyrenäen nach Figueres in Katalonien. Endlich kann ich durchatmen. Statt für ein erneutes Studium entscheide ich mich, meine künstlerische Tätigkeit weiter zu verfolgen.

JUNI 1997: Ich bin vierzehn und krame im Bücherregal meiner Mutter. Ein Buchrücken hat mir schon immer gefallen, er bildet Frauenköpfe in violett und roten Farbtönen ab. Das Buch heisst «Frauen» und ist von Marilyn French – meine erste feministische Lektüre.

JUNI 1997: Beim Ska-Festival entschuldigt sich Johannes dafür, dass er mich die ganze Zeit anschauen muss.

JULI 1997: Wieder ein Wechsel: Ich ziehe mit Mann und Tochter nach Winterthur, ohne Tiere.

JULI 1997: Ich werfe mich in die Wellen und tauche immer wieder hinab. Das Wasser schmeckt salzig und brennt in den Augen. Ich kann nicht schwimmen, zumindest noch nicht. Heute werde ich es schaffen, werde das Wasser zähmen und mir zum Freund machen.

JULI 1997: Ich durchquere mit Papa und Ernst den Grand Canyon.

JULI 1997: Ich verbringe einen Tag beim Festival «Skulptur.Projekte Münster 1997» und erahne erstmals die grossen Potentiale von Kunst in öffentlichen Räumen.

JULI 1997: Meine Tochter wird geboren. Seit diesem Tag weiss ich, was wirkliches Glück bedeutet.

JULI 1997: Nach einem Jahr bin ich wieder einen Sommer im Dorf meiner Mama und renne ins Schlafzimmer, wo mein Onkel sitzt. Ich habe Angst, den Raum zu betreten und setze ein Lächeln auf, als ich meinen schwer krebskranken Onkel das erste Mal sehe.

JULI 1997: Ich darf als Einzige das Spitalzimmer betreten. Ich bin richtig stolz, und als ich meine Schwester das erste Mal in meinen Armen halte, weiss ich, dass ich sie für immer beschützen und lieben werde.

JULI 1997: Ich stehe im Hafen vor diesem verrosteten alten Tanker und male mir aus, wie man ihn mit Essen beladen und damit in die Welt hinausfahren könnte.

JULI 1997: Meine Schwester geht für ein Jahr ins Welschland. Ich weine und bin krank.

JULI 1997: Wir ziehen in den ehemaligen Osten. Ich sehe triste Plattenbausiedlungen und bin irritiert, weil die Menschen von den guten alten Zeiten reden.

AUGUST 1997: Ich verbringe fantastische Zeltferien am Atlantik mit Ma, Pa und meinen beiden Brüdern.

AUGUST 1997: Meine Brüder fahren meine Möbel nach Utrecht in Holland; bei der Ankunft meint Claudio, das «Goede morge» der Holländer töne wie «Morchle».

AUGUST 1997: Stefanie bekommt die Diagnose Parkinson.

AUGUST 1997: Ich fliege, zum ersten Mal in meinem Leben. Nach England, in den Sprachaufenthalt. Beim letzten gemeinsamen Frühstück für das nächste halbe Jahr erfahre ich von meiner Mutter, dass Stunden zuvor Prinzessin Diana tödlich verunglückt ist.

AUGUST 1997: Ich sehe das Auto davonfahren. Ich muss am nächsten Morgen in den Flieger zurück nach Hause. Mein Herz bricht.

AUGUST 1997: Ich lerne ihn kennen.

SEPTEMBER 1997: Auf Klassenfahrt im Landschulheim. Wir sitzen spät am Abend draussen, ich erkläre den Sternenhimmel. Es ist das erste Mal, dass ich von meiner Klasse wirklich ernst genommen werde. Danach ist mein Verhältnis zu den Klassenkameraden wie ausgewechselt.

SEPTEMBER 1997: Ich wandere aus.

SEPTEMBER 1997: Nach dem knappen Bestehen meiner berufsbegleitende Matura bin ich traumatisiert, träume nachts wiederholt, dass ich die Mathematikprüfung noch nachholen muss, und vergesse während zweier Jahre gelesene Texte sofort wieder.

SEPTEMBER 1997: Es ist Mitternacht und ich ejakuliere zum ersten Mal. Es schmerzt so sehr, dass ich mir schwöre, es mir nie wieder zu machen.

SEPTEMBER 1997: Ich werde eingeladen, auf einem Stahlseil erste Schritte zu versuchen. Die Füsse schmerzen, aber ich möchte nicht mehr aufhören.

SEPTEMBER 1997: Ich lebe zum ersten Mal allein – ich glaube, es ist die schönste Wohnung in der ganzen Stadt.

OKTOBER 1997: Ich bestehe die Aufnahmeprüfung am Max Reinhardt Seminar. Alle anderen freuen sich. Ich heule, weil ich eigentlich gar nicht nach Wien wollte.

OKTOBER 1997: Frank Hoffmann inszeniert an dem neu gegründeten Nationaltheater in Luxemburg Strindbergs «Traumspiel». Das Theater kann sich eine eigene Welt erschaffen! Da will ich mitmachen.

OKTOBER 1997: Ich liege bäuchlings auf dem Boden unter dem Tisch und weine bitterlich. Mit meinen Tränen schreibe ich das Wort «Oma» auf die Sockelleiste des Teppichs.

OKTOBER 1997: Mein erster Freund zwingt mich zum ersten Mal zu Sex. Er wird es noch für den Rest unserer Beziehung tun.

OKTOBER 1997: Die neue Wohnung in Zürich ist bezogen. Ich laufe über die Bahnhofbrücke und bin angekommen.

OKTOBER 1997: Im Kühlfach entdecke ich einen Heiratsantrag. Ich heirate meinen Freund und Vater meiner Tochter.

NOVEMBER 1997: Ich verbringe ein Austauschjahr in den USA, während dem meine Familie auseinanderbricht. Mein Vater und Bruder ziehen aus, bevor ich zurück bin.

NOVEMBER 1997: Major Tom. Mit offenen Mündern knien wir am Fenster und starren in den Novemberhimmel. Glauben wird uns das keiner.

NOVEMBER 1997: Ich bekomme eine Absage. Dann schreibe ich nochmals einen Brief und bekomme die Stelle.

NOVEMBER 1997: Ich weiss, dass ich ihn treffen werde. Ich denke, da läuft eine Wette, wer das erste Groupie in Berlin abschleppt. Tut es nicht. Die Begegnung bringt mich in die Schweiz.