1995

JANUAR 1995: Ich sitze alleine mit meinem Klassenlehrer im Klassenzimmer. Wir besprechen meine Zukunft. Seine Empfehlungen überrumpeln mich. Ich merke: Es ist Zeit, die Dinge selber in die Hand zu nehmen.

FEBRUAR 1995: Ich lerne L.F. kennen. Ich lerne die Liebe kennen. Er stellt mein Weltbild auf den Kopf.

FEBRUAR 1995: Meine Ausbilderin in Graz ist genau gleich alt wie ich und sieht mir sehr ähnlich, kommt aber aus Olympia, Washington. Wir haben eine gemeinsame Bekannte, welche mir aber nur im Traum begegnet ist. Als wir das herausfinden, gruselt es uns beide sehr.

FEBRUAR 1995: Markus ist betrunken und bedroht meine Mutter. Wir streiten. Ich balle meine Faust, um ihm eins in die Fresse zu hauen.

MÄRZ 1995: Wir entscheiden uns, zusammen ein Jahr nach Berlin zu fahren. Die Sachen schicken wir in einem Holzcontainer per Bahn.

MÄRZ 1995: Der Lehrer in meiner ersten Tanzstunde ist gross, schwarz und schön – er sagt zu mir: «Arizona, komm, mach, tanz!», weil ich ein T-shirt mit der Aufschrift «I love Arizona» trage.

MÄRZ 1995: Ich reise zum ersten Mal alleine. Fahre für eine Woche nach Hamburg um Theater zu schauen und wohne bei irgendwelchen Schauspielstudenten. Ich muss mehrmals irgendwelche Typen aus dem Bett schmeissen, die sich einfach einschleichen. Mein Kiefer ist eine Woche lang so verkrampft, dass ich ihn kaum öffnen kann.

APRIL 1995: Ich schwänze zum ersten Mal die Schule, weil ich nicht aufhören kann zu weinen: Er hat mich auf dem Pausenhof demonstrativ ignoriert, obwohl wir zusammen sind.

APRIL 1995: Ausbruch der bipolaren Krankheit nun auch bei mir.

APRIL 1995: Mein erster ernst zu nehmender Freund Marcel outet sich fünf Jahre nach der Trennung am Telefon als schwul, während meine fünf schwulen Freunde gerade um mich herumsitzen. Ich lache und freue mich für ihn.

APRIL 1995: Vor meiner ersten Schwimmunterrichtsstunde habe ich panische Angst. Ich weine und will nicht hin, weil ich befürchte, dass alle anderen heimlich schon schwimmen können. Meine Mutter versucht mich zu beruhigen, aber ich bin mir sicher: «Die sagen das bloss nicht!» – Sie lacht.

APRIL 1995: Ich besuche meine Mutter im Spital. Ich nehme zum ersten Mal wahr, dass sie todkrank ist. Sie sagt, ich solle von den gebrannten Mandeln kosten, die sie geschenkt bekommen hat. Ich antworte, sie müsse doch die Mandeln geniessen, damit sie wieder gesund werde.

APRIL 1995: Ich stehe im Flur meiner besten Freundin mit einem weinenden Lächeln gegenüber. Es sollte eine Überraschung sein. Sie ist wieder da. Ich freue mich leise vor mich hin und fühle die Abwesenheit eines ganzen Jahres mit ihr mit.

MAI 1995: Mein Vater zieht aus.

MAI 1995: Meine Mutter beginnt kurz nach meiner Geburt wieder zu arbeiten, ich wachse hauptsächlich bei meiner Tante auf.

MAI 1995: Als frischgebackener Laienschauspieler sind meine ersten, weltbewegenden Worte: «Wo isch au de Fredy?»

MAI 1995: Ich habe eine Band. Meine Bandmitglieder malen meinen Klarinettenkoffer blau an.

MAI 1995: Unser erster Auftritt als Duo. Pillerbar. Verwegenes Publikum. Nach vier Stücken zieht man uns den Stecker. Doch siehe da: Eine Horde Unerschrockener droht dem Veranstalter mit Prügel. Das sorgt wieder für Strom. Wow. Wir haben Fans. Das rockt.

JUNI 1995: Ich spaziere mit einem Handwerker über den kleinen Forschungscampus, bis er sich auf einer Platte vor dem Angestelltenunterstand hinkniet. Dann schickt er mich weg, weil er jetzt beten will.

JUNI 1995: Ich besuche Jürgen, meine erste grosse Liebe. Er ist inzwischen Vater von Jakob und Antonia, die gerade vier und zwei Jahre alt sind. Sein Körper ist von seiner fortgeschrittenen Krebserkrankung entstellt. «Wie soll das mit mir nur weiter gehen?» Wir lassen die Antwort unausgesprochen im Raum schweben.

JUNI 1995: Ich stehe am Hühnerstall, es dämmert. Ich höre die Erwachsenen drinnen Geige spielen und denke: Diesen Moment muss ich mir für immer merken.

JUNI 1995: Ich werde operiert: Brustkrebs. Aggressive Variante, schlechte Prognose. Ich rüste mich für den Kampf, und gewinne: Ich lerne, dass ich viel mehr Freunde habe, als ich dachte. Dass jeder etwas anderes zu geben hat, und dass das gut ist. Ich lerne zu nehmen, und dass ich es verdient habe.

JULI 1995: Philip und ich küssen uns zum ersten Mal.

JULI 1995: Er ist siebzehn Jahre älter als ich und sehr spannend. Ich heirate ihn in Venedig.

JULI 1995: Mein Bruder und ich stehen im Cockpit einer Boeing-747, die gerade nach Mumbai fliegt und ich schaue mir den Himmel an.

JULI 1995: In zwei sechswöchigen Urlauben im Campingmobil in Griechenland fühle ich mich als der einsamste Mensch der Welt. Ich lese unglaublich viele Bücher und höre stundenlang Musik.

JULI 1995: Gartenparty eines Klassenkameraden. Ein Freund und ich verbarrikadieren uns irgendwann zum Schlafen, während die anderen draussen heimlich rauchen. Wir finden das unmöglich.

JULI 1995: Bei einer Segelreise mit der Landjugend lerne ich Cordula kennen. Schon im Bus zum Meer habe ich das Gefühl, dass sie irgendwie bleiben wird an meiner Seite.

AUGUST 1995: Von der Alp, auf der ich den Sommer verbracht habe, gehe ich gut vier Stunden zu Fuss nach Hause.

AUGUST 1995: Meine grosse Liebe legt vor allen unglaubliche zwei Mal mehrere Sekunden lang ihre Hand auf meinen Arm.

AUGUST 1995: Mein Vater erklärt mir seine Videokamera. Ich drehe mit meiner kleinen Schwester Scherztalkshows.

SEPTEMBER 1995: Meine erste WG: Endlich frei – auch wenn das Leben mit vier Männern nicht nur Vorteile hat, vor allem, wenn alle zum ersten Mal alleine wohnen.

SEPTEMBER 1995: Das Glück beschert mir einen Professor, der mich unterstützt. Ich bin fest entschlossen, meinen Weg zu gehen, auch wenn es mir Angst macht.

SEPTEMBER 1995: Wirtschaftsdiplom in der Tasche, keine Ahung, was aus mir werden soll. Ich steige in ein Flugzeug nach Neuseeland.

SEPTEMBER 1995: Ich lebe ein paar Monate in England und finde Freunde fürs Leben von Japan und Südkorea.

SEPTEMBER 1995: Ich sehe meinen Vater zum ersten Mal weinen.

SEPTEMBER 1995: Ich sperre mich im Klassenzimmer ein, da ich Angst vor der Kampfansage meiner Klassenkameraden habe.

SEPTEMBER 1995: Ich erzähle eine «wahre» Geschichte, während wir auf das Tram warten. Das Tram fährt ab. Mein Bruder sagt lange nichts, dann: «Dummschnurri».

SEPTEMBER 1995: Ich bin für ein Jahr als Ausstauschschülerin in den USA und muss mich für eine Wahlsportart einschreiben. Ich entscheide mich für das kleinste Übel: Aerobics. Ich liebe es!

OKTOBER 1995: Ich erblicke das Licht der Welt. Ich werde wundervolle Eltern haben.

OKTOBER 1995: Ich habe Ausschläge – sie nennen mich «Konfigesicht».

OKTOBER 1995: Bei der Umrundung des Kailash verlaufen wir uns und ich werde schneeblind.

OKTOBER 1995: Ich lerne ein Ehepaar kennen, das an mich glaubt und mir Mut macht, den Weg zu gehen, der mir entspricht.

NOVEMBER 1995: Ich komme mit Florian zusammen und werde sehr lange denken, dass das die grosse Liebe ist.

NOVEMBER 1995: Urs geht aus dem Leben, ich hatte ihm Jahre zuvor gesagt, falls ich mal heirate, dann ihn, und es ernst gemeint.

NOVEMBER 1995: Reise nach Madagaskar. Ein erstes Eintauchen in andere Lebensumstände verändert meinen Blick auf die Welt. Die Reiseführer hab ich gelesen, aber niemand bereitet dich auf die hüfthohen Löcher in den Strassen, den Geruch auf dem Markt und die grossen Kinderaugen vor.

NOVEMBER 1995: Ich spiele ein Einpersonenstück, das ich selber geschrieben habe. Ich denke, dass es möglich sein kann, Schauspieler zu sein und davon zu leben.

DEZEMBER 1995: Silvester: Eben verwandelt sich die 5 auf dem Bildschirm in eine 6. An diesem Abend habe ich erfahren, dass wir umziehen werden.

DEZEMBER 1995: Ich habe auf alle Seiten heftige Probleme und bin schwer krank. Meine Freundin begeht Selbstmord. Als ich ihren toten Körper berühre, spüre ich, dass ich lebendig bin.

DEZEMBER 1995: Mama und Papa erklären uns am Weihnachtsabend Arm in Arm, dass sie es nochmal miteinander versuchen wollen. Ich bin bestürzt und denke nur, dass das weiterhin schief gehen wird.

DEZEMBER 1995: Ich melde mich nicht für die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule an.