1994

FEBRUAR 1994: In einem Kulturaustauschjahr in Kolumbien, wo ich im Departement Choco als Orchideenpflanzerin in einem Nationalpark arbeite, werde ich von einem Skorpion gestochen. Kurz darauf ertrinke ich fast. Ich kämpfe zweimal ums Überleben und realisiere, dass ich noch lange nicht sterben möchte.

FEBRUAR 1994: Mein Bruder wird mit acht Jahren von einem Auto überfahren. Es ist das erste Mal, dass wir getrennt zur Schule gehen. Meine Eltern fragen mich, warum ich nicht zusammen mit ihm auf dem Schulweg gewesen bin.

MÄRZ 1994: Zwei Wochen in der Hängematte im Dschungel von Kolumbien.

MÄRZ 1994: Ich sitze im Wohnzimmer und höre Musik von der grossen Stereoanlage meines Vater. Dann nehme ich mich selber auf und mache meine eigene Radiosendung. Ich stelle auch Pfannen auf, auf denen ich trommle.

MÄRZ 1994: Berlin ist hart, vor allem im Winter. Ich bin unzufrieden mit mir und meinem Leben. Ich entschliesse mich, keine Psychotherapie zu machen, sondern eine Reise durch Chile. Nach drei Tagen in Santiago geht es mit mir bergauf.

MÄRZ 1994: Ich lerne meine erste «grosse» Liebe kennen. Mit ihr verbringe ich die nächsten knapp acht Jahre. Inklusive erster eigener Wohnung.

APRIL 1994: Ich bestehe die Prüfung zur Lic. Phil. I. Ich wiege 36 Kilogramm.

APRIL 1994: Paris, Hotel Concorde La Fayette, 33. Stockwerk, Suite 32. Ich habe zehn Minuten Zeit, um Raymond Hung für «Performance REVIEW Plus» zu gewinnen.

MAI 1994: Ich nehme meinen ersten Job an, ziehe von zu Hause aus – und bekomme eine Depression. Ich schaue während einem Jahr zirka siebenhundertmal das Video «The Lion King».

MAI 1994: Eine Frage eines Kindes erlöst mich von meinem christlichen Glauben.

MAI 1994: Mein Mann ist nach einer akuten Hirnblutung an den Rollstuhl gefesselt. Mit meiner Praxis im Haus ist es mir möglich, ihn noch 17 Jahre lang zu pflegen.

MAI 1994: Christian und ich beschliessen, «nur Freunde» zu sein, und fühlen uns sehr erwachsen.

MAI 1994: Ich hänge mein Germanistikstudium an den Nagel und habe keine weiteren Pläne. Niemand will mich zur Vernunft bringen.

MAI 1994: Im Gefängnis von Ambato male ich einen Akt von Adriana und ein Selbstportrait an die Wand. Die Tage vergehen schnell, die Nächte sind lang, da ist kein Licht zum Malen.

MAI 1994: Während einer Theaterübung im Kreis schauen wir uns in die Augen. Die Übung will nicht enden. Das hat eingeschlagen.

MAI 1994: Wir spielen mit unserer Kinder Rock'n Roll Band im Tigerentenclub vor einer blauen Rakete. Ich trage eine blaue Latzhose und bin irritiert, wann ich in welche Kamera gucken soll.

MAI 1994: In der Schule kann ich etwas an der Tafel nicht lesen und gehe nach vorn, um richtig lesen zu können. Als meiner Lehrerin das auffällt, macht sie einen Sehtest für die ganze Klasse. Es stellt sich heraus, dass ich eine Brille brauche. Ich bin stolz und suche mir die bunteste aus, die ich kriegen kann.

MAI 1994: Ich kaufe für die WG besonders viel WC-Papier und lade die Pakete auf mein Velo. Bei der Heimfahrt stürze ich und habe eine schwere Hirnerschütterung. Im Spital fragen sie meine Mutter, ob ich sonst normal sei.

JUNI 1994: Ich lerne bei Dreharbeiten einen Austatter kennen, der mich sehr beeindruckt mit seiner speziellen Art, an die Szenenbilder heranzugehen.

JUNI 1994: Ich reduziere mein Arbeitspensum und übernehme einen grösseren Anteil an Familien- und Hausarbeit.

JULI 1994: In meiner Firma beschliesse ich die Entwicklung und Einführung neuer, innovativer Vertriebswege, wie den «Telefonischen Kartenservice» und das «Computer Ticket».

JULI 1994: Ich knutsche.

JULI 1994: Ich spiele Trineli Roggli auf dem Eichberg Openair Theater anlässlich der 1000-Jahre-Uetendorf-Feier und will Schauspielerin werden.

JULI 1994: Kurztrip mit einem Kollegen nach Hamburg. Er wird der Mensch, mit dem ich alt werden will. So oder so.

JULI 1994: Die ersten Ferien am Meer und zu Hause endlich ein TV!

JULI 1994: Ich lerne meine spätere zweite Frau am Psychotherapie-Weltkongress in Hamburg kennen und lieben.

AUGUST 1994: Ich sitze auf einem Karussell und fühle mich zu alt dafür, sag aber meiner Mutter nichts davon und sie tut mir sehr leid.

AUGUST 1994: Bei einer Schweigeminute in St. Stephano in Assisi bahnt sich bei Sanne und mir ein Lachanfall an. Sanne eilt hinaus und lacht draussen lauthals und gut hörbar los. Ich quäle mich in der Kirche.

AUGUST 1994: Dänemark. Ich gehe reiten, meine Eltern streiten.

SEPTEMBER 1994: Das ist Liebe – noch heute liebe ich ihn.

SEPTEMBER 1994: Im Jura esse ich psychedelische Pilze. Ich erlebe die Gegenwart frei von Vergangenheit und Planung und empfinde ein tiefes Gefühl von Vergebung mir und der ganzen Welt gegenüber.

SEPTEMBER 1994: Meine Eltern kommen zu dritt zur Premiere. Papa mit Parkinson.

SEPTEMBER 1994: Ich spiele Ronja die Räubertochter im gleichnamigen Musical. Beim Applaus fühle ich mich wie ein Star.

SEPTEMBER 1994: Meine Mutter bringt mir bei, dass die Ärzte meiner Schulfreundin den Fuss amputiert haben. Krebs.

SEPTEMBER 1994: «Ich freue mich, zu meiner Frau zurückkehren zu können.» So endet der Abschiedsbrief des Mannes, der einen Tag zuvor seinen Koffer in meine Wohnung getragen hat. Wie ein Dieb in der Nacht stiehlt er sich wieder aus meinem Leben.

OKTOBER 1994: Peter fährt mit dem Rad an mir vorbei. Ich sage zu meiner Freundin Mira: Schau mal, der gefällt mir.

OKTOBER 1994: Felix hält mich zum ersten Mal. So muss Liebe sein.

OKTOBER 1994: Wir, ein paar von der Klasse, fahren im VW-Bus in den Jura. Auf der Jurawiese finden wir sie, die Psylos, und je mehr man davon isst, desto mehr sieht man sie. Und wird high. Wir ziehen uns aus, tollen auf der Wiese herum, ignorieren die Fussgänger, dann die Polizei. Macht Spass, wie totale Hippies. Bis sie uns holen.

OKTOBER 1994: Wir können Anna gesund vom Frauenspital heimnehmen, nachdem die Ärzte befürchtet hatten, auch sie leide, wie ihr Bruder, an einem Infekt.

OKTOBER 1994: Nein, nicht schon wieder ein Hans! Ich verliebe mich trotzdem.

NOVEMBER 1994: Ich verbrenne mich mit kochendem Wasser am ganzen Körper. Meine Oma duscht mich ab, bis der Krankenwagen kommt und ich denke, dass ich ertrinke.

NOVEMBER 1994: Ich lege Valérie die Hand aufs Knie. Dann gehen wir zu ihr nach Hause.

NOVEMBER 1994: Ich werde in der Schule von einem Mitschüler verprügelt. Oliver, ein anderer Mitschüler, tröstet mich. Die restlichen anderthalb Jahre der Primarschule fühle ich mich in ihn verliebt, aber ich bin viel zu schüchtern, als dass was daraus werden könnte.

DEZEMBER 1994: In der Silvesternacht schaue ich aus dem Fenster, während das Feuerwerk knallt. Ich bin unglücklich mit meinem Jurastudium und habe das Gefühl, dass mein Leben in eine ganz falsche Richtung läuft.

DEZEMBER 1994: Meine Oma stirbt im Krankenhaus und ich singe ihr stundenlang aus dem Gesangbuch vor, weil sie das sehr mag. Ich habe danach ganz schlimmes Halsweh und weiss nicht, ob vor Trauer und Weinen oder vom Singen.