1991

JANUAR 1991: Umzug nach Thalheim: Vier Erwachsene und fünf Kinder leben in einem engen 4,5-Zimmer-Hausteil, während der andere Teil umgebaut wird. Zum Glück bin ich noch zu jung, um mich an alle Details zu erinnern.

FEBRUAR 1991: Ein Kreuzbandriss beendet meine Volleyballkarriere.

FEBRUAR 1991: Um Mitternacht werde ich von Nils in das mit Teelichtern illuminierte Badezimmer geführt. Das Badewasser schimmert leuchtend blau. Eine Blütenkerze schwimmt darauf mit vier Streichholz-dünnen langen Kerzen, die um eine kleine Geschenkbox angeordnet sind. In der Schachtel liegt das Unfassbare: der geniale Silberring, den wir vor zehn Monaten in einem Schaufenster gesehen hatten, und der um die 1000 DM kostete, für uns unerschwinglich. Ganz stolz berichtet Nils, dass er den Ring am Tag, nachdem wir ihn entdeckt haben, reserviert hat und fünf Monate lang heimlich mithalf, ein altes Dampfboot zu restaurieren, bis er das Geld zusammen hatte.

MÄRZ 1991: Ich trete als Gitarristin an einem Punk-Konzert in der UdSSR auf.

MÄRZ 1991: Ich schneide mir die Zöpfe ab.

MÄRZ 1991: Mein Vater schenkt mir zehn Gutscheine für den Reitunterricht. Seitdem träume ich von einem Haus mit weissem Gartenzaun, einer Koppel und Pferden.

APRIL 1991: Ich fahre mit einem Plymouth Horizon während zwei Monaten zweimal quer durch die USA. Ich rede nur das Nötigste und fühle mich an den verlassensten Orten glücklich.

APRIL 1991: Wir stehen in Paris an der Hotelreception und das Fräulein versichert meinen Eltern, dass sie wirklich kein Stoffkätzchen in unserem Zimmer gefunden haben.

APRIL 1991: Meine erste grosse Liebe gesteht mir, dass seine neue Flamme gerne Händchen hält.

APRIL 1991: In den Familienferien stirbt meine 16-jährige Tante plötzlich an einem Virus. Von einem Tag auf den andern bin ich die Älteste: Ich muss auf meine kleinen Schwestern aufpassen, während meine Eltern im Spital den Leichnam abholen. Seit diesem Tag fühle ich mich erwachsen.

MAI 1991: Die Zeit steht still.

MAI 1991: Gastspiel mit meinem ersten Soloprogramm in Köln. Am ersten Abend versuche ich rund acht ZuschauerInnen zu erwärmen, ein totaler Misserfolg. Am zweiten Abend steht vom Schweizer Botschafter gespendeter Champagner auf dem Tisch und interessierte Filmemacher knüpfen mit mir den ersten Kontakt für ein zukünftiges Projekt.

MAI 1991: Nach insgesamt 92 Platzrunden ist es in meiner Pilotenausbildung am 19. Mai so weit: Die 93. Platzrunde ist meine, ganz alleine... Reinhardt May: Über den Wolken ...

JUNI 1991: Obwohl ich nicht rauche, gehe ich in die Raucherecke und lerne dort Philipp kennen. Er spricht mich auf meinen Auftritt im Theater an.

JUNI 1991: Ich werde als Kulturbeauftragte gewählt.

JUNI 1991: Auf der Ferienlager-Reise nach Jugoslawien sitze ich auf dem Beifahrersitz, als die übermüdete Fahrerin den Bus in einen Baum fährt.

JULI 1991: Ich bin froh, ein erstes Diplom in Händen zu halten und endlich flügge zu sein.

JULI 1991: Es ist 22 Uhr, ich mache einen Spaziergang, danach muss ich noch über nichtlinearen Gleichungen brüten, und morgen ist eine Prüfung in der Organisationslehre angesagt. Ich frage mich, warum ich mir das antue.

JULI 1991: Meine Theaterlehrerin sagt bei der Abi-Feier auf dem Hof zu Mama: «Sie sollte weitermachen mit Theater!», darauf diese: «Setzen Sie ihr keine Flausen in den Kopf!»

JULI 1991: Mein fünfter Geburtstag: Mein Westonkel schickt weiterhin Haribo, kistenweise, ich bade darin. Das ist Glück.

JULI 1991: Ich komme von einem Tanzworkshop nach Hause und erfahre von Anna, dass meine frühere Freundin Ursula bei einem katastrophalen Autounfall schwer verletzt wurde, aber überlebt hat und nun nach verschiedenen schweren Operationen im Spital liegt.

JULI 1991: Lena blinzelt ins gleissende Licht des Gebärzimmers im Spital.

AUGUST 1991: Klassenlehrer Meier will, dass ich in den Sommerferien meine Arbeit fertigstelle. Ich geniesse die Ferien. Die Nacht vor und der Weg zum ersten Schultag sind von Angst und Schuldgefühlen geprägt. Meine Vogel-Strauss-Taktik im Leben ist geboren.

AUGUST 1991: Die beste Entscheidung meines Lebens: Nach der Premierenfeier von «Das Liebeskonzil» und durchredeter, durchfeierter Nacht gehe ich mit Michi frühstücken.

AUGUST 1991: Cliffs of Moher. Das Wasser zweihundert Meter tiefer zieht mich enorm an.

AUGUST 1991: Abflug ins Austauschjahr. Mein erster Flug und gleich über den grossen Teich: «Auf was habe ich mich da bloss eingelassen?»

AUGUST 1991: Herzinfarkt – ich darf überleben, und es ist ein Wunder, dass ich nach allen Eingriffen noch lebe.

AUGUST 1991: Ich bin sehr erleichtert über die Kirchliche Nichtigkeitserklärung meiner jahrelangen Ehe mit einem Mann, der zum Alkoholiker wurde.

SEPTEMBER 1991: Ruedi und ich heiraten nach dreizehn Jahren Beziehung. Ein Zweifel nagt in mir und doch liebe ich ihn fest, möchte es unbedingt. Ich träume von einer Familie.

OKTOBER 1991: Ein absolutes, durch und durch beglückendes Gefühl, mit mir und der Welt in Einklang und Liebe zu sein, überkommt mich für ungefähr sechs Stunden. Am nächsten Morgen erklärt mir die Leitung des evangelischen Jugendlagers, dass ich Jesus mein Leben übergeben hätte und der Heilige Geist in mich gekommen sei.

OKTOBER 1991: Ich schwimme im Hallenbad, die Schwimmlehrerin und meine Eltern stehen am Beckenrand. Sie freuen sich und rufen mir zu. Ich breite beim Schwimmen beide Arme aus – soeben habe ich eine mittelschwere Neurose abgelegt. Fünf Monate lang hatte ich die Arme überkreuzt gehalten, weil ich einen imaginären Schatz darin trug. Jetzt bin ich befreit.

NOVEMBER 1991: Mit unserer zweiten Tochter ist unser Glücksklee komplett – von meinen Kindern lerne ich so vieles: Wenn sie hinfallen, rappeln sie sich einfach auf und laufen weiter. Und sie tun auch ihren Unmut laut kund!

NOVEMBER 1991: Nach siebzehn Wochen Spitalaufenthalt in Basel schaffe ich dank meinem Partner, meinen Eltern, Freunden und Freundinnen den Weg zurück ins Leben.

NOVEMBER 1991: Ich drücke auf die Leertaste und fülle Seiten. Dann drücke ich die Löschtaste. Lukas meint, das sei irgendwie depressiv.

NOVEMBER 1991: Das Leben auf dem Lande in Graubünden wird mir zu eng. Das kann es doch nicht gewesen sein! Mit meiner Kleinfamilie ziehe ich nach Berlin, an den Prenzlauer Berg.

NOVEMBER 1991: Ich betrachte ein Röntgenbild von meinem eigenen Schädel. Nicht gut.

NOVEMBER 1991: Hallenturnier in Windisch. Mit dem Ball am Fuss komme ich über die Mittellinie. Mehrere Stimmen schreien, ich solle schiessen. Schuss. Tor. Ich komme mir vor, wie von der Zeit entrückt, als die Mitspieler zu mir kommen.

NOVEMBER 1991: Die sprechen da vorne auf der Bühne und ich denke: Warum kann ich nicht aufstehen und mitreden?

DEZEMBER 1991: Ich komme nach Hause und niemend ist da. Ich warte und warte und weine. Eine Nachbarin nimmt mich zu sich. Meine Eltern sind mit dem Umbau des Hauses beschäftigt.

DEZEMBER 1991: Meine erste grosse Liebe verlässt mich.

DEZEMBER 1991: Eine Freundin schenkt mir zu Weihnachten ein Plakat von meinem Lieblingsfilm. Ich muss vor Rührung weinen.

DEZEMBER 1991: Wir trinken Tee aus Pilzen. Ich bin in einer Verfassung, wo ich meinen Körper als extrem biegbar wahrnehme. Es scheint, als könnte ich meine Arme um ein Balkongeländer schlingen. Danach beisse ich in ein Glas. Ich beisse präzise. Ich beisse einen Halbkreis heraus.

DEZEMBER 1991: Ich habe nach langer Wanderschaft wieder ein Dach über dem Kopf und begegne Eber, der mein engster homöopathischer Freund wird. Seine Grosszügigkeit rettet mich immer wieder.