1990

JANUAR 1990: Unsere erste Tochter erblickt das Licht der Welt – welch' eine Bereicherung. Sie ist ein Sonnenstrahl – durch sie lernen wir viele junge Familien kennen. Da wir keine Familie vor Ort haben, wuppen wir den Alltag allein bzw. helfen uns gegenseitig.

FEBRUAR 1990: Mein kleiner Bruder kommt zur Welt. Ich habe im Kreissaal geschlafen und sehe, wie er gebadet wird. Dann darf ich ihn halten.

FEBRUAR 1990: Herr Bischofberger gibt mir in Deutsch freundlicherweise eine 5 statt eine 4,5. Ich fliege nicht von der Schule.

FEBRUAR 1990: Ich verpasse in New York einen Anschluss-Flug. Das Flugzeug stürzt ab, es gibt keine Überlebenden.

MÄRZ 1990: Ich trete vor einen schweren Lastwagen mit Tieflader und Bagger und bin überzeugt, dass ich ihn stoppen kann. Das wird der Start zu einer dreimonatigen gewaltfreien Blockade der Bauarbeiten eines Waffenplatzes.

APRIL 1990: In der letzen Nacht der Tanztheater-Kurswoche in Rasa sitze ich mit Maria am Feuer und schlage ihr vor, eine Gruppe zu gründen.

APRIL 1990: Im Vorlesungszimmer 101 der Uni Bern lerne ich Bea kennen.

APRIL 1990: Zugreise nach Florenz. Ich fahre allein für sechs Monate weg und weiss nicht mehr, warum.

APRIL 1990: Mein Zwillingsbruder und ich spielen Pirat und setzen das Elternhaus unter Wasser. Der Grossvater kommt um zu helfen und schaut böse. Wir haben Spass.

APRIL 1990: Meine Eltern lassen sich scheiden. Ich weine viel und bin empört über so viel Ungerechtigkeit.

MAI 1990: Mein Mann hat seit diesem Jahr eine Woche mehr Ferien und diese schenkt er mir. Er wird für eine Woche «Hausfrau» und ich besuche mit einer Freundin einen Aquarell-Malkurs im Tessin. Das Malen fasziniert mich und lässt mich nie mehr los. Mein Mann wird jedes Jahr eine Woche allein mit den Kindern verbringen.

MAI 1990: Das Wunder von New York: Inmitten dieser lauten Stadt wird uns Lukas anvertraut – unser zweites Wunschkind, das uns lehrt, dass Liebe nicht an Gene gebunden ist.

MAI 1990: Ich merke, dass ich lesen kann.

MAI 1990: Ich habe die Schnauze voll von dieser jahrelangen Abhängigkeit und lache mir einen Mann an, den ich kein bisschen liebe. Das nehme ich in Kauf.

MAI 1990: Ich sehe auf dem Spielplatz ein Mädchen, das genau so aussieht wie ich. Es trägt sogar die gleichen Jeans. Ich bin fasziniert und ganz ruhig. Ich sehe es nur ein Mal.

MAI 1990: Ich bin im Auto und traue meinen Augen nicht: Links und rechts der geraden Strasse sind strohgedeckte Rundhütten, Palmen, Affenbrotbäume. Wir sind in Westafrika angekommen und werden mehrere Jahre bleiben. Ich kann während Wochen die Gesichter der Leute nicht unterscheiden und erlebe, was ein Kulturschock ist.

JUNI 1990: Wir ziehen aufs Land. Hier muss ich die Eltern meiner Freunde siezen und die richtigen Dinge tun, sagen, anziehen.

JUNI 1990: Ich eröffne mein eigenes Töpferatelier in unserem Haus.

JULI 1990: Unsere Wohnung wird gekündigt. Wir brauchen lang, bis wir eine neue finden. 16 Jahre später wird mir eine Kinesiologin sagen, die Ursache für meine Krankheit sei in meiner Kindheit zu suchen. Meine Mutter erinnert sich: Sie sei damals sehr verunsichert gewesen.

JULI 1990: Einzug in die erste Wohnung ohne Papa.

JULI 1990: Wild Horses. Überall Blut, keine Schmerzen, keine Angst. Auch an das Pferd erinnere ich mich nicht. Ich wundere mich nur über die Leute, die mich anstarren und über ihre entsetzten Gesichter.

AUGUST 1990: New Life. Ich kann wieder nach Hause. Ich lebe. Ich bin erst neun, aber beim Wiedersehen mit meinem kleinen Wellensittich wird mir das ganze Ausmass dieser Tatsache bewusst.

AUGUST 1990: Ich geh an die Kanti und lerne viele nette Leute kennen, an die ich mich immer noch gerne erinnere. Ich denke gerne an die grüne Wiese und den blauen Himmel vor der Schule zurück.

SEPTEMBER 1990: Ich entscheide mich gegen ein Referendariat und gegen eine Unikarriere. Ich beginne eine Lehre zur Buchhändlerin. Ich bin unglaublich glücklich mit der Entscheidung.

SEPTEMBER 1990: Wir warten am Prager Bahnhof auf die Weiterfahrt nach Deutschland, wo keiner von uns je zuvor gewesen ist. Ich kann nicht schlafen, weil es zu laut und zu hell ist.

SEPTEMBER 1990: Ich fahre erstmals weg von «Daheim». Im Bus schaue ich durchs Fenster und denke: Was habe ich denn eingeleitet? Wo geht es hin?

SEPTEMBER 1990: Ich stehe fasziniert im Schrebergarten einer über 80-jährigen Frau, die zwölf Kinder grossgezogen hat und ihn aufgibt, weil die Kinder finden, sie solle sich endlich zur Ruhe setzen.

SEPTEMBER 1990: Ich kenne meine grosse Liebe Frank jetzt fünf Monate. Wir spüren eine ganz tiefe Verbundenheit und brechen in ein neues Leben auf. Wir gehen dahin, wo er zufällig Arbeit findet. Ich verlasse mein Elternhaus mit einem Koffer voller Bücher, ein paar Klamotten und 120 DM. Ich bin 18 Jahre alt und weiss nicht, was mich erwartet. Ich möchte nie mehr zurückkehren.

SEPTEMBER 1990: Ich schlafe zum ersten Mal mit einer Frau.

SEPTEMBER 1990: Ich stehe im Kindergarten vor meinem Kleiderhaken mit Schmetterlingsbild. Links neben mir hängt ein Mädchen mit kurzen braunen Haaren ihre Jacke an ihrem Kleiderhaken mit Schaf auf. Ich frage sie, ob wir Freundinnen sein wollen. Wir schütteln uns die Hände. Das Mädchen heisst Sina.

SEPTEMBER 1990: Weil ich mit meinen Mitschülern Streit habe wegen dem Golfkrieg, schwänze ich die Schule. Mit meinem Bruder und einem Freund beobachte ich den Sonnenaufgang im Nebel.

SEPTEMBER 1990: Meine Eltern reisen mit mir nach Paris, an die Küste bei Le Havre und den Loire-Schlössern entlang wieder Richtung Bern. Diese Reise brennt sich mir für alle Zeiten ein: Die Landungsstrände in der Normandie, Bunker-Ruinen, Bomben-Krater und der amerikanische Soldaten-Friedhof am Omaha Beach. Ich bin froh ist kein Krieg.

OKTOBER 1990: Meine Schwester kommt zur Welt. Sie liegt in einem blasslila Strampelanzug in einem Bettchen und riecht gut.

OKTOBER 1990: Neben meiner Arbeit als Informatik-Projektleiter und Manager beginne ich Kurse in Radieren und Tiefdruck zu besuchen – ich erlerne nach und nach alle Techniken.

OKTOBER 1990: Mit Sandra spaziere ich durchs Mülitäli. Zum ersten Mal küsse ich eine Frau und bin total verliebt.

OKTOBER 1990: Ich lerne lesen.

NOVEMBER 1990: Sehr plötzlich, nach nur dreitägiger Krankheit, stirbt mein Mann. Ich fühle mich ohne ihn sehr einsam.

DEZEMBER 1990: In meinem US-Highschooljahr schreiben wir in der Schule Weihnachtsbriefe an die Desert Storm-Soldaten. In Deutschland schreiben meine Freunde «Kein Blut für Öl» auf Transparente.

DEZEMBER 1990: Zu dritt ziehen wir von der Stadt aufs Land. Familie und Garten, Hühner, Enten und Zwergziegen bestimmen mein Leben.