1988

JANUAR 1988: Ankunft in der Schweiz. Nach 15 Jahren in Mosambik und 15 Jahren in Brasilien ist es nicht einfach, in Europa zu leben. Die Schweizer erscheinen mir am Anfang konservativ, arrogant und verschlossen.

JANUAR 1988: Mein Bruder kommt auf die Welt.

JANUAR 1988: Ich werde überraschend für die Grünen in den St. Galler Kantonsrat gewählt, dem ich für sechs Jahre angehören werde.

FEBRUAR 1988: Im Internat erlebe ich die erste grosse Liebe. Er gibt mir einen Kuss. Ich kann mich danach für Stunden nicht mehr rühren.

FEBRUAR 1988: Ich sehe Pirmin Zurbriggen die Olympiaabfahrt in Calgary gewinnen und beschliesse, Skirennfahrer zu werden. Dass ich bisher noch nie auf Skiern gestanden bin, schmälert diese Ambition in keinster Weise.

FEBRUAR 1988: Meine Eltern setzen sich dafür ein, dass ich die Bezirksschule besuchen kann. Dort finde ich Freundinnen fürs Leben.

MÄRZ 1988: Ich bewerbe mich in jugendlicher Überheblichkeit für eine Redaktorenstelle bei einer angesehenen Tageszeitung.

APRIL 1988: Als mein Freund am Freitag Nachmittag die Saunatasche packt, wie jeden Freitag Nachmittag die letzten zehn Jahre, wird mir schlagartig klar, dass ich so nicht mehr leben möchte. Ich beende die Beziehung und beginne eine neue. Eine durchwachsene Zeit beginnt.

MAI 1988: Ich komme weinend heim und erzähle Mama, wie mich die anderen in der Schule wieder verletzt haben. Mama regt sich auf und meint: «Die sind extra hierher gezogen um in deiner Nähe zu sein, damit sie dich besser plagen können. Wir sind umzingelt von ihnen.» Ich verstumme, weil ich weiss, dass das nicht stimmt.

JUNI 1988: Ein Mädchen sagt, dass ich keine richtigen Eltern hätte. Meine Mutter antwortet mir auf meine Nachfrage, was sie damit wohl meine: «Was wäre, wenn es so ist?» Nichts ist so, wie es scheint.

JUNI 1988: Michael Jackson Konzert im St. Jakob-Stadion Basel. Zu 50'000st singen wir wie aus einem Mund «I'm bad, I'm bad, you know it».

JUNI 1988: Ich komme zurück vom Reiten und mein schwer depressiver Vater sagt mir, dass er sich während meiner Abwesenheit habe erschiessen wollen. Projekt gescheitert mangels Auffinden der Munition. Bin völlig überfordert.

JULI 1988: Nach einem Arbeitsunfall sitze ich im Büro von Hoteldirektor Hanspeter Graber vor einem IBM AT 02, mache mich mit der Software bekannt und gerate in eine Identitätskrise.

JULI 1988: Nach langer Suche entschliessen wir uns, ein Reiheneinfamilienhaus zu kaufen.

AUGUST 1988: Ich sehe in London im Kino zum ersten Mal Peter Greenaways «Drowning by Numbers».

AUGUST 1988: Ich muss zurück zu Mutter.

AUGUST 1988: Ich darf mir eine Violine beim Geigenbauer aussuchen und ausleihen.

SEPTEMBER 1988: Mein Vater ist im Westen geblieben. Ich mache keine Jugendweihe und auch keine Konfirmation. Ich glaube an nichts.

SEPTEMBER 1988: Bei meiner ersten Arbeitsstelle in der Schweiz sprechen die Kollegen und Chefs extra in gebrochenem Deutsch mit mir: «Du machen das, du schauen das, du hier heute arbeiten». Es sind keine schlechten Menschen, aber es beleidigt mich und macht mich traurig.

OKTOBER 1988: Mein Vater glotzt mich an mit einem sentimental-passiven Blick, und ich sage: «Was schaust du so blöd».

OKTOBER 1988: Mein erster fester Freund lässt sich gut vorzeigen. Er ist höflich und wohlhabend. Ich traue mich endlich, meine Mutter anzurufen und ihr zu sagen, dass ich schwul sei. Sie sagt, dass sie das längst wisse.

NOVEMBER 1988: Das Beste in meinem Leben kommt auf die Welt: Max, mein Sohn.

NOVEMBER 1988: In Nara, Japan, habe ich, umringt von unzähligen zahmen Rehen auf dem Weg zum grössten Holztempel der Welt, ein Déja-vu-Erlebnis aus meiner Kindheit: freilaufende Rehe mit wachem Blick in einem Lausanner Park. Nicht frisch geschossene mit starren Augen wie in unserer Küche.

NOVEMBER 1988: Umzug in die grosse Wohnung. Mir fehlt Pascal – und die Geissen.

DEZEMBER 1988: Ich bekomme von meinem Freund die erste Spiegelreflex-Kamera geschenkt.

DEZEMBER 1988: Mit dem ersten Staatsexamen in der Tasche fliege ich mit zwei Freundinnen für vier Monate nach Neuseeland und Australien. Eines der grössten Abenteuer meines Lebens: Ich kann kein Englisch und schaffe es doch, alles zu managen.

DEZEMBER 1988: Ich lese heimlich unter der Bettdecke, bis meine Mutter mich dabei ertappt und mir die Taschenlampe wegnimmt.

DEZEMBER 1988: Irgendwann an den Weihnachtsfeiertagen stelle ich fest, dass ich lesen und schreiben kann. «Jetzt werde ich mich nie wieder langweilen müssen», denke ich und schreibe das auf, und dann schreibe ich heimlich Gedichte mit rosa Filzstift auf die Rückseite meiner Schreibtischunterlage.