1984

JANUAR 1984: Das erste Mal im Zuschauerraum: Es wird dunkel und die Hoffnung und Neugierde, jetzt dann gleich etwas Unglaublichem, Unvergleichbarem beizuwohnen, überfällt mich. Es folgt ein unvergessliches Bühnenereignis, das mich mit tiefer Befriedigung erfüllt. Ich habe die totale Gewissheit, dass ich am richtigen Ort bin und irgendwann im Theater arbeiten will.

FEBRUAR 1984: Wir heiraten! Wir wählen einen Wintermonat, um nicht auf gutes Wetter hoffen zu müssen. Es schnieselt – passt doch zu einer weissen Hochzeit!

FEBRUAR 1984: Der schwarz-pinke Renndress von Michela Figini und Maria Walliser an der Winter-Olympiade in Sarajevo beeindruckt mich derart, dass mir ihre Podestfahrten als erste bewusste Erinnerung haften bleiben.

FEBRUAR 1984: Ich werde notfallmässig ins Spital transportiert. Knapp am Tod vorbei.

FEBRUAR 1984: Nach einigen Anläufen klappt es mit meinem Traummann Andreas: Er ist Kollege, wir fliegen zusammen, schmusen während der Pause und werden bald ein Paar.

FEBRUAR 1984: In der Skischule fahre ich dem Lehrer davon, weil der Unterricht zu langweilig ist. Ich habe keine Ahnung mehr, wo ich bin, und fange an zu weinen. Plötzlich taucht mein Vater vor mir auf und rettet mich! Dem Lehrer ist nicht mal aufgefallen, dass ich verloren gegangen bin.

MÄRZ 1984: Meine Mutter ist nicht da.

APRIL 1984: Wir eröffnen eine genossenschaftlich geführte Kulturbeiz. Bangen und Zweifeln – schliesslich viel Lust und Freude.

APRIL 1984: Ich gehe mit Brigitte nach Rom und wir verlieben uns.

APRIL 1984: Dora kündigt an, dass sie nicht mehr meine beste Freundin sein will, weil sie eine andere beste Freundin habe.

APRIL 1984: Ich sitze in der eiskalten Lorenzkirche und höre die Matthäuspassion. Danach fühle ich mich, als hätte ich gebadet.

MAI 1984: Mein Vater versucht, meinen Bruder wieder zu beleben. Meine Mutter schreit. Ich stehe da und vergesse all das gründlich, ausser den weissen Sarg und die sieben Vergissmeinnicht, die ich dem behandelnden Arzt stolz geschenkt habe.

MAI 1984: Ich verbringe mehrere Sommermonate mit einer Handvoll Freunden auf der Alp. Die Nachfolgerinnen bestätigen, dass der Korb, den ich zum Aufbewahren von Esswaren aus entdornten Brombeerranken selber geflochten habe, fast zwei Jahrzehnte lang weiter durchhält.

MAI 1984: Das Judotraining fällt aus und mein Bruder und ich müssen vom Nachbardorf nach Hause laufen. Er sagt mir, dass ich nie direkt an einem Feld entlang laufen dürfe, weil es gefährlich ist und mich ein böser Mann entführen könnte.

MAI 1984: Am Samstagabend in rasender Fahrt auf dem Töffli unterwegs zu meinen Freunden. Ich erlebe ein unbeschreibliches Gefühl der Freiheit.

JUNI 1984: Mein Onkel Klaus glaubt an den Weltuntergang. Als ich am Tag nach dem prophezeiten Untergang wieder aufwache, bin ich sehr froh.

JULI 1984: Bei einem christlichen Jugend-Event drücke ich dem Papst Johannes-Paul II eine Toblerone, die ich vor den Bodyguards versteckt habe, in die Hand.

JULI 1984: Meine kleine Schwester versucht, ihr Kinderzimmer in ein Schwimmbad umzufunktionieren. Ich bin mir nicht sicher, ob das klappt, setze mich aber vorsichtshalber aufs Hochbett, um im Erfolgsfall von dort aus einen Kopfsprung zu probieren.

AUGUST 1984: Ich schwimme gegen hohe Wellen an und bin schon 400 Meter vom Ufer entfernt, obwohl die Flagge oben ist. Ich erlebe ein unbeschreibliches Gefühl von Kraft, Stärke, Freiheit und lerne das Meer zu lieben. Ich kämpfe und gebe nicht auf, erreiche die Sandbank, wo ich mich kaum auf den Beinen halten kann. Ich bin nicht allein.

AUGUST 1984: In Nepal mache ich mich auf eine Trekking Tour im Annapurna-Gebiet in Richtung Tibet. Auf Mauleselpfaden laufe ich täglich Stunden, schlafe in Bretterveschlägen mit Plumpsklo ausserhalb. An einem Tag durchwandere ich erschöpft ein Waldgebiet. Plötzlich höre ich lauter Töne von Flöten und Pfeifen. Eine Gruppe buntgekleideter Menschen hüpft und läuft mit strahlenden lachenden Gesichtern an mir vorbei. Es sind Tibeter auf Wanderung. Ich bleibe staunend von dem schönen Bild stehen und spüre meine Erschöpfung nicht mehr.

AUGUST 1984: Ich bin schwanger und so krank, dass ich zeitweilig nicht mehr sprechen und nicht mehr gehen kann und denke, ich würde sterben. Ich bin überfordert. Mein Mann unterstützt mich nicht. Ich lasse das Kind abtreiben. Der Arzt saugt mein Kind mit einem Schlauch aus der Gebärmutter in ein transparentes Plastikgefäss ab. Im Lavabo neben dem Behandlungsstuhl spült er die blutige Flüssigkeit in den Ausguss. Ich bin sehr traurig und muss immer nur weinen.

AUGUST 1984: Ich bestehe meine Autoprüfung.

AUGUST 1984: Mein erster Clownauftritt: Ich strahle von innen.

SEPTEMBER 1984: Mit Michi und Andreas lerne ich die Vögel kennen. Erst kann ich den Spatz nicht vom Buchfink unterscheiden, später will ich Biologie studieren.

SEPTEMBER 1984: Ich ziehe mit Gaby zusammen in die Friedrich-Ebert-Strasse. Im ganzen Haus wohnen Leute von unserer Gruppe. Ich bin die Jüngste.

OKTOBER 1984: Mit allen drei Söhnen ziehen wir ins eigene Haus nach Ennetbaden, nachdem wir beim Umbau intensiv selber Hand angelegt haben.

NOVEMBER 1984: Wegen dem DDR-System der Absolventenvermittlung kann ich nicht in Weimar bleiben und habe jahrelang keine Chance auf eine eigene Wohnung: Ich muss meine berufliche Tätigkeit in Leipzig beginnen und in einem Arbeiterwohnheim leben. Diese Entmündigung tut weh! Immerhin macht die Arbeit Spass, die Kollegen sind nett und ich habe einen eigenen West-PC.

NOVEMBER 1984: Meine Freundin erträgt meine aggressiv depressive Stimmung nicht und schickt mich weg mit den Worten «Komm zurück, wenn du dich beruhigt hast». Und ich begreife, dass sie wirklich will, dass ich wiederkomme.

DEZEMBER 1984: Ich ziehe zu Hannes und Patrik. Mit Patrik teile ich das Bett. Hannes hängt auf Bhagwans Geheiss Anti-AIDS-Tücher in die Küche neben die gefrorenen Waschlappen. Uns ist warm.