1976

JANUAR 1976: Ingrid kommt als sechs Wochen altes Baby als Pflegekind in unsere Familie. Wir adoptieren sie drei Jahre später.

JANUAR 1976: Ich erlebe meinen ersten Schnee in San Francisco. Gemeinsam mit meiner Mutter, meinem Bruder und meinem Vater fahren wir auf einen Berg. Wir haben ein lila Sandförmchen dabei, eine Krake. Damit machen wir Schneefiguren auf die Motorhaube und freuen uns, wenn sie in der Kurve runterfallen.

FEBRUAR 1976: Mein Götti schenkt mir zum Geburtstag ein Reitstunden-Abo. Ich mache einen Luftsprung vor Freude.

FEBRUAR 1976: Ich bin wieder mit meinem Mann zusammen, verlasse ihn wieder, kehre erneut heim. Mein zweiter Sohn kommt zur Welt – ich muss eine Wohnung, einen Job, ein Tagesheim finden.

MÄRZ 1976: Ich nehme in Olten eine Stelle als Kinderhortleiterin an und bleibe «hängen». Politische Aktivitäten in der «POCH» gehören nun zu meinem Leben dazu: Ich mache bei an allen Demos gegen das Atomkraftwerk Gösgen mit.

MÄRZ 1976: Ein wichtiger deutscher Tourneeveranstalter übernimmt ohne Gegenleistung mein Risiko aus einem Vertrag und bestärkt mich darin, nicht aufzugeben und im Spiel zu bleiben.

APRIL 1976: In einem Pfadilager führt eine junge Frau Feuer und Wasser als Pantomime auf. Ich bin fasziniert. Sie wird meine beste Freundin.

MAI 1976: Ich fliege einen Hubschrauber. Er steht auf dem Hof der Nachbarschule. Einmal im Jahr veranstaltet meine Schule mit der Nachbarschule einen Sportwettkampf. Ich schwänze den Weitsprung und fliege lieber den Hubschrauber.

MAI 1976: Ich beginne mit Gitarrenspielen. Nach wenigen Einzelstunden werde ich als Sänger und Gitarrist in einen Kinderchor aufgenommen.

MAI 1976: Mein Vater besteigt ein Flugzeug. Die Triebwerke fallen aus. Alle Insassen kommen ums Leben.

JUNI 1976: Ich heirate in Basel eine Norwegerin aus Oslo.

JUNI 1976: Ich bestehe die Reiterprüfung. Ich bin stolz, weil ich zu den wenigen gehöre, die kein eigenes Pferd haben.

JULI 1976: Ich bin an eine Geburtstagsparty eingeladen. Es ist laut, alle spielen und raufen. Ich sitze alleine an einem Tisch und sage nichts. Mir wird klar: Ich bin anders.

JULI 1976: Wir finden im Park vor unserem Haus einen toten Fuchs. Er hat Schaum um den Mund. Wir müssen uns ganz gut die Hände waschen, obwohl wir ihn nicht angefasst haben.

OKTOBER 1976: Ich werde mit Unterstützung von Unterschriftensammlungen von Studenten und Kollegen als Nachfolger von Prof. Stamm auf den Lehrstuhl für Altes Testament gewählt – gegen vier deutsche Professoren und den Widerstand des Fakultätsdekans.

OKTOBER 1976: Ich werde mit 27 erstmals Vater einer Tochter.

NOVEMBER 1976: Mitglieder des Demokratischen Manifests dringen in die Räumlichkeiten des Cincera-Archivs ein, lassen kistenweise Dokumente mitgehen und machen die reiche Ernte öffentlich. Ich sitze in der Cafeteria der Polyterrasse beim Frühstück und sehe mich auf der Titelseite des Tages-Anzeigers mit dem (mich betreffenden) Briefwechsel zwischen meinem Vater und dem RS-Obersten konfrontiert. Das Gipfeli bleibt mir im Halse stecken.

NOVEMBER 1976: Gameli, unser zweites Kind wird geboren. Er erfüllt die Hoffnungen seines Vaters, wei er ein Junge ist. Sein Name bedeutet «Es ist noch Zeit». Er wird dies gleichsam zu seinem Lebensmotto machen, schon indem er etwas zu spät auf die Welt kommt!