1975

FEBRUAR 1975: Sie ist neu an unserer Schule und sehr schön. Ich fange an Gedichte zu schreiben, und von Zeit zu Zeit schenke ich sie ihr.

MÄRZ 1975: In der kleinen Klinik am Stadtrand erblicke ich ein nasses Haarbüschel – den Kopf der ersten meiner drei Töchter.

MÄRZ 1975: Gitarrenunterricht. Ich bin verliebt. Musik verzaubert.

MÄRZ 1975: Meine erste Stelle in einem Kinderheim mit behinderten Kindern bereitet mir viel Freude.

MÄRZ 1975: Meine Freunde sind Europäer, Inder und Afrikaner, die sich alle als Mosambikaner fühlen – eine Nationalität, die es zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gibt. «Make love not war» erleichtert unsere Jugend in den Zeiten des Kalten Krieges in Afrika. Wir probieren verschiedene Drogen und tanzen zu Jimi Hendrix, Janis Joplin und den Rolling Stones.

APRIL 1975: Sarah, unsere erste Tochter kommt auf die Welt. Es ist noch nicht üblich, das Neugeborene fast immer bei sich im Spitalzimmer zu haben. Wenn sie im Säuglingszimmer schreit, höre ich sie an ihrer tiefen Stimme immer aus allen anderen heraus.

APRIL 1975: In einem Aussenquartier unserer Stadt trete ich eine Stelle in einer Schule an. Ich werde dort 31 Jahre lang unterrichten.

MAI 1975: Beim Abitur finde ich die Feierlichkeiten und Reden unnötig, albern und nervig. Ich bin froh, endlich die Theorie hinter mir zu haben und in einem Vorpraktikum zur Medizinisch-Technischen Assistentin praktisch tätig werden zu können.

MAI 1975: Meine Jugendweihe: Gruppenzwang, verordnet vom Staat und von der Familie, weil sie wichtig ist, um Abitur machen zu dürfen. Ich trage das schlimmste Outfit, das ich je getragen habe – es ist der Hasstag meines Lebens.

JUNI 1975: Ich bin mit meiner Freundin unterwegs nach München. Mit InterRail wollen wir bis zum Nordkap reisen, dann runter nach Finnland und dort mit einer Gruppe junger Leute aus ganz Europa bei der Heuernte helfen. Es ist meine erste grosse Reise, ich war noch nie zwei Monate unterwegs.

JUNI 1975: Meine Freundin Edith nimmt mich zum ersten Mal mit ins Zürcher Opernhaus: «Schwanensee» mit Natalia Makarova – aber mich beeindruckt vor allem das schöne Haus mit dem vielen Gold, den Lichtern und dem Leuchter.

AUGUST 1975: Ich werde durch den Regierungsrat zum Studienberater und Beamten des Kantons Basel-Stadt gewählt.

AUGUST 1975: Papi spielt mit mir im Elternzimmer und ich verstecke mich im grün-weissen Wäschekorb. Ich fühle mich ihm sehr nahe. Das Zimmer ist durch den Lichteinfall der Spätsommersonne mit einer enorm warm-sinnlichen Stimmung ausgefüllt.

AUGUST 1975: Im Jahr meiner Einschulung erleidet meine Mutter einen Schlaganfall und verliert ihre Sprache. Sie muss sie mühsam neu erlernen. Ich beginne, ihre Sätze zu vervollständigen, wenn ihr die Worte fehlen.

SEPTEMBER 1975: Mit meiner Freundin miete ich im Kanton Bern eine gemeinsame Wohnung, und wir leben in «wilder Ehe» zusammen. Meine Eltern sind anfangs dagegen, unterstützen uns aber, nachdem wir eingezogen sind.

OKTOBER 1975: Meine Mutter weint und sagt: «Jeder von uns packt einen Koffer mit 25 Kilo, alles andere müssen wir hier lassen. Ich gehe lieber nach Brasilien mit euch, als noch ein Kind in Mosambik zu verlieren.» – «Sind wir jetzt auch Flüchtlinge, Mutter?» – «Ja, aber wir leben.»

OKTOBER 1975: Ich sitze mit Papa in der Badewanne, er wäscht mir mit einem Messbecher die Haare.

NOVEMBER 1975: Mein Sohn kommt auf die Welt.

NOVEMBER 1975: Erste Begegnung mit John Curry, auch «Nurejew des Eises» genannt, nachdem er gerade zum x-ten Mal in Richmond bei London englischer Meister geworden ist. Kurz danach wird er zum ersten Mal Europameister, Weltmeister und Olympiasieger.