1972

JANUAR 1972: In Torquai erlebe ich erstmals einen Streik. Die Elektrizität fällt aus und Geschäfte werden geplündert. Ich weine viel.

JANUAR 1972: Die Zeitschrift Elle bietet an, per Computer meine Daten zu vergleichen und allenfalls die Adresse eines passenden Mannes mitzuteilen. Ich mache mit, da ich bis anhin keinen gefunden habe, der meine Interessen teilt und mir auch sonst gefallen hätte. Ich erhalte vier Adressen und treffe drei Männer. In meinen Mann verliebe ich mich am ersten Abend. Wir unterhalten uns noch heute angeregt.

MÄRZ 1972: Meine Eltern kaufen mir eine gute Oboe. Ich habe immer mehr Freude am Spielen und an der Musik.

MÄRZ 1972: Ich wundere mich, dass der frischgeborene Bruder schon beim Coiffeur war.

MÄRZ 1972: Mit dem soeben geborenen Georg können wir ins eigene, neu erbaute Haus einziehen.

APRIL 1972: Ich besuche mein geliebtes Pferd Heika. Es gehört mir nicht, aber ich habe seine Freundschaft gewonnen. Liebe ist nicht an den Besitzer gebunden, ich bin glücklich.

APRIL 1972: Ich schliesse die Mittelschule in Samedan/Schiers mit dem Lehrerpatent ab und trete meine Stelle in Wettswil an.

APRIL 1972: Ostersonntag in Rio de Janeiro in einem Restaurant am Ipanema Strand. Plötzlich lehnt sich mein Vater über mich. Ich denke, er will etwas zwischen den Stühlen vom Boden aufheben. Ich schaue meine Mutter an, und ihre Augen, voll von Panik und Schmerz, verraten mir, dass etwas Schlimmes passiert ist. Sie hilft mir, ihn auf den Boden zu legen. Mein Vater stirbt an einem Herzinfarkt.

JUNI 1972: Ich gebe Gürtel, Schuhbändel und Portemonnaie ab und betrete die Gefängniszelle, die wegen meiner Militärverweigerung für die nächsten Wochen mein Zuhause sein wird.

JULI 1972: In meiner Stammdisco werden Uta und ich einander von einem gemeinsamen Bekannten vorgestellt. Die Freundschaft hält bis heute.

JULI 1972: Die Kinder sind aus dem Haus, ich arbeite halbtags, mein Mann geht in Teilrente. Erstmals haben wir beide Zeit nur füreinander und beginnen zu reisen – eine schöne zufriedene Zeit beginnt.

OKTOBER 1972: Meine geliebte Grossmutter ist über Nacht bei uns. Ich krieche morgens zu ihr ins Bett, meinen Kopf drücke ich in ihre Armbeuge. Ich nehme das bereitliegende Buch und lese ihr zum ersten Mal vor. Bis jetzt war es immer umgekehrt. Ich habe bei ihr durch ihre Geduld und ihre Freude an meinem Erfolg lesen gelernt.

NOVEMBER 1972: Ich zerstreite mich mit meinem Lebenspartner und kehre in die Schweiz zurück. Mein Sohn kommt zur Welt.

NOVEMBER 1972: Wir holen unsere zweite Tochter Inka Maria im Alter von sechs Monaten am Flughafen Köln ab: Ein Findelkind aus Ambato, Ecuador, das wir adoptiert haben.

DEZEMBER 1972: Ich sitze unter dem Weihnachtsbaum und füge Plastikbuchstaben zu Wörtern zusammen – stolz, dass ich schon schreiben kann. Mein Onkel schaut mir zu und meint: «Du bist ja doch nicht so dumm, wie du aussiehst.»