1970

FEBRUAR 1970: Unsere Tochter Anja wird in Frankfurt geboren.

FEBRUAR 1970: Meine kleine Schwester kommt zehneinhalb Monate nach mir auf die Welt.

MÄRZ 1970: Ich breche das Medizinstudium endgültig ab und entschliesse mich, Lehrer zu werden.

APRIL 1970: Antritt meiner ersten Stelle als Primarlehrerin in Elgg: Erste eigene Wohnung, möbliert, ohne eigenen Eingang, im Haus des Gemeindepräsidenten!

APRIL 1970: Meine Familie ist von Freunden in einem Restaurant zum Mittagessen eingeladen. Die Serviertochter fragt mich: «Was möchte denn der Junge gerne bestellen?»

APRIL 1970: Ich bekomme einen Cockerspaniel-Plüschhund von Steiff. Ich nehme ihn überall hin mit, sogar zum Arzt. Ich halte ihn auf dem Arm. Seinen Kopf verdecke ich mit meiner Jacke, die Augen sehen nicht echt genug aus.

APRIL 1970: Beginn meiner Banklehre im Unterland. Die schöne Villa im Zentrum der Kleinstadt strahlt die Ruhe der «guten alten Zeiten» aus. Gut gekleidete Mitarbeitende empfangen mich freundlich lächelnd.

APRIL 1970: Mein Vater begleitet mich im Zug ins Welschland. Ein Jahr ohne Eltern und Freunde steht mir bevor – putzen, kochen, abwaschen, Kinder betreuen und sonntags allein in der Küche essen. Schrecklich!

MAI 1970: Ich muss als Linkshänderin in der Schule mit der rechten Hand schreiben lernen. Für die unbeholfenen krummen Striche erhalte ich eine schlechte Note.

MAI 1970: Ich verliebe mich Hals über Kopf in eine Studienkollegin, aber sie erwidert meine Gefühle nicht.

MAI 1970: Als ich am Mittag von der Schule nach Hause komme, ist meine kleine Schwester im Spital. Diagnose: zerebrale Malaria. Am Abend liegt sie im Koma, und am nächsten Tag bei Sonnenaufgang fliegt ihre wilde und freie Seele für immer von uns weg.

JUNI 1970: Ich habe zum ersten Mal Sex.

JULI 1970: Ich erfahre auf einem Friedhof, wer mein Vater ist und dass ich acht Halbschwestern und einen Halbbruder habe.

JULI 1970: Ich gewinne meinen ersten Prozess! Gegen die Vormundschaftsbehörde Luzern, in Sachen meines Bruders. Man wollte ihm, ohne mich zu fragen, einen Vormund verpassen, welcher uns weder genehm noch vertrauenswürdig war. Ich bin stolz.

AUGUST 1970: Während eines Besuchs in Tripolis, wo meine Eltern arbeiten, machen wir eine Reise nach Ghadames. In dieser traumhaften Sahara-Oase möchte ich heiraten.

AUGUST 1970: Wir ziehen nach Freienstein in unser neu erbautes Haus mit Flachdach. Nach den Sommerferien muss ich in der neuen Klasse neben dem unbeliebtesten Jungen sitzen.

AUGUST 1970: Ich stehe vor meiner Klasse – seit einem Jahr lebe ich mit meiner Mutter und Grossmutter in der Schweiz und werde Johanna genannt. Ich fordere meinen Namen zurück. Es geht problemlos.

SEPTEMBER 1970: Ich ziehe von zu Hause aus und gehe studieren.

SEPTEMBER 1970: Wir ziehen nach Paris und ich arbeite in der Forschungsabteilung einer der führenden Firmen im Gebiet der Trinkwasseraufbereitung und Abwasserreinigung.

OKTOBER 1970: Ich habe genug von der Schweiz und fliege nach Kanada, wo ich einen Job bei einer Schweizer Firma gefunden habe.

OKTOBER 1970: Ich stehe zum ersten Mal auf der Bühne des Schauspielhauses.

NOVEMBER 1970: In der 8. Klasse stehe ich auf der grossen Bühne und singe ein Solo in einem Musical von Paul Burkhard.