1968

JANUAR 1968: Mein Vater hält das Fahrrad hinten fest, ich trete wackelig los, fahre schneller und schneller. Inzwischen hat mein Vater losgelassen und ich fahre einfach weiter. Ich kann Fahrrad fahren!

FEBRUAR 1968: Mein Vater erleidet eines Morgens eine Hirnblutung. Ich gehe weiterhin zur Schule und muss bei verschiedenen Freunden wohnen, während meine Mutter in Chur und Zürich in den Spitälern beim Vater ist.

MÄRZ 1968: Ich im Gitterbett. Eine Mücke schwirrt herum. Ich habe Angst, bin aber auch neugierig. Ich versuche sie zu fangen, lehne mich weit über's Gitter. Zu weit. Bummms. Voll auf die Stirn.

APRIL 1968: Nachdem ich zum zweiten Mal fast aus der Schule geflogen wäre, muss ich meinen Vater bei einem Telefongespräch überzeugen, dass es mir nun wirklich ernst ist. Wir sprechen erstmals auf Augenhöhe zusammen und beschliessen, dass ich die Matura machen werde, was ich dann auch mit Erfolg tue.

APRIL 1968: Ich fahre mit meinem Freund nach Südfrankreich. Wir fahren die ganze Nacht durch und parken gegen Morgen den Deux-Chevaux im Rhône-Delta, auf dem Sand direkt am Meer. Wir schlafen miteinander im Auto, während die Sonne aufgeht, dann schlafen wir eng umschlungen ein.

APRIL 1968: Studentenunruhen in Zürich. Die Kunststudenten meines Vaters sind beteiligt. Sie erzählen uns davon, zeigen uns die Wunden, die ihnen die Polizisten zugefügt haben. Meine Begriffe von Moral und Kultur werden aufgebrochen.

APRIL 1968: Meine Eltern und ich haben einige Umzüge von Sprachgebiet zu Sprachgebiet hinter uns – nun ziehen wir in eine neue Welt, in die frankophone. Auch wenn ich kein Wort Französisch kann, fühle ich mich sofort wohl. Nach einem Jahr bin ich Klassenbester in Französisch.

MAI 1968: An meinem zwölften Geburtstag lege ich meine Lebensziele fest: Nie aufgeben, nicht verbittert werden, fair und ehrlich sein, Familie gründen, jeden Tag etwas Kleines zum Glücklichsein finden, beim Sterben zufrieden mit dem gelebten Leben sein.

MAI 1968: Auf einer Schulfete höre ich «In-A-Gadda-Da-Vida» von Iron Butterfly – eine ganz neue Musikwelt öffnet sich mir.

JUNI 1968: Ich verlobe mich mit Stefanie.

JUNI 1968: Im Kindergarten male ich das ganze Blatt mit gelber Farbe an. Darauf kommt ein rotes, einfaches Gesicht. Das ist die Sonne, und sie ist so gross, dass sie auf dem Blatt nicht Platz hat.

JULI 1968: Ich treffe meine erste grosse Liebe auf dem Zeltplatz in Gampelen.

AUGUST 1968: Ich bin stolzer Vater von Peter.

AUGUST 1968: Ich erwache vom Weinen meiner Cousine. Sie steht am Fenster und schaut auf die Panzer des Warschauer Paktes hinunter, die auf der Kreuzung vorbei fahren. Den ganzen Tag. Ein junger Soldat steht starr dort und weist die Richtung. Am Mittag bringen ihm die Leute vom Dorf Suppe und Tee. Der Prager Frühling ist zu Ende.

SEPTEMBER 1968: Wir bekommen Dackel Schnurzel. Ich liebe ihn und will ihn immer wieder herzen. Er mag das nicht und ich bin enttäuscht. Ich lerne, seinen Willen zu akzeptieren und ihn trotzdem zu lieben.

SEPTEMBER 1968: Als ich das Maturazeugnis in Händen halte, fühle ich mich so befreit wie kaum je zuvor. Das bevorstehende ETH-Studium erscheint mir in einem ungeheuer idealisierten Licht.

OKTOBER 1968: Der Film «Vom Winde verweht» macht mich zum Kinofan und Schwärmer von Vivien Leigh und Scarlett O'Hara.

NOVEMBER 1968: Im Zuge der politischen Ergeinisse in Zürich verlasse ich nach der Rekrutenschule die Abteilung Bauingenieur an der ETH und beginne ein Studium an der Universität Zürich.

DEZEMBER 1968: Als ich den Boden Israels betrete, erlebe ich ein Erleichterungsgefühl wie noch nie: Mein Judesein ist hier normal, es gibt keine Diskriminierung aus diesem Grund.

DEZEMBER 1968: Ich kriege zu Weihnachten einen schönen Wintermantel mit Kapuze.