1966

FEBRUAR 1966: Ich bin mit meinem Stiefvater in den Skiferien. Ich erwache nachts, weil er zärtlich meine Wange zu streicheln beginnt. Ich flüchte ins WC und schliesse mich dort bis am Morgen ein. Der nächste Tag ist, als wäre nichts geschehen, obwohl mir doch Ungeheures passiert ist.

APRIL 1966: Ich gehe zum ersten Mal in eine richtige Schule – die Sekundarschule. Ich bekomme endlich richtige Noten.

MAI 1966: Mein kleiner Bruder ist plötzlich gelähmt. Bin ich schuld daran?

MAI 1966: Ich erhalte zum Namenstag von meiner Patentante Imelda ein Päckchen, das ich in der Schule öffne. Meine Lehrerin fragt mich, ob ich meinen Geburtstag dieses Jahr im Mai feiere. Da ich stottere, habe ich auf dem Schulweg meine Antwort auf diese Frage, die ich erwartete, geübt: «Das ist mein Namenstags-Päckchen von meiner Patentante.» Es klappt und ich bin unendlich stolz. Endlich stehe ich, die Einzelgängerin, im Mittelpunkt.

MAI 1966: Wieder zügeln wir: diesmal nach Aarberg. Dort kommt meine Tochter cerebral gelähmt zur Welt. Drei Jahre trainieren wir mit physiotherapeutischer Anleitung. Meine zwei wilden Buben verhalten sich mäuschenstill, während ich mit ihr übe. Sie entwickelt sich zu einer gescheiten, starken und gesunden Frau.

MAI 1966: Ich zeige stolz meine Anstecker-Sammlung. Der Freund meines Vaters bietet mir hundert Kronen dafür, ich lehne ab. Mein Vater sagt seinem Freund strahlend, dass ich ihm die Sammlung schenke. Er bezahlt sie mir hinterher.

JULI 1966: Bei der Geburt meines fünften Kindes sagt der Arzt zu mir: «Dieses Kind kann wählen, ob es am 1. August oder einen Tag früher zur Welt kommt.» Wir helfen der Geburt nach, indem wir einen langen Spaziergang auf dem Gurten machen und gebeugten Rückens Himbeeren pflücken. So kommt Franziska schon am 31. Juli zur Welt.

AUGUST 1966: Bei einem jugendlichen Protestmarsch beobachte ich, wie die Polizei einen Klassenkameraden festnimmt. Angeblich hatte der sich gewehrt und die Polizisten getreten, gebissen und bespuckt. Ich sage als Zeuge aus, dass das nicht stimmt und werde daraufhin selber wegen Landfriedensbruch angeklagt. Begründung: die Demonstration war zu dem Zeitpunkt aufgelöst, ich hätte dort gar nicht mehr sein dürfen. Mein Verständnis für Obrigkeit und Politik ist nachhaltig gebrochen.

AUGUST 1966: Vom Taschengeld kaufe ich ein kleines, hübsches Büchlein, in das ich Starfotos klebe und meine Schwärmereien schriftlich niederlege.

OKTOBER 1966: Meine Mutter heiratet zum dritten Mal und wird endlich glücklich, 36 Jahre lang. Mein Stiefvater ist, nach meinem Grossvater, eine der im positiven Sinne prägenden Personen in meinem Leben.

OKTOBER 1966: Ich beginne meinen Aufenthalt in Israel bei einer Familie deutschstämmiger Juden. Jochanan und Hanna sind wunderbare Menschen, die mir das geben, das ich daheim vermisste. Obwohl ihre Eltern in Auschwitz umgekommen waren, kennen sie keinen Hass. Ihr Herz ist gross. Ich erfahre das erste Mal, wie man in einer intakten, guten Familie lebt.

NOVEMBER 1966: Mein erster Sohn wird in Amerika geboren. Die Empfangsstelle der Gebärstation kommt mir mit ihrer langen Chromstahl-Theke vor wie eine Metzgerei. Die dicke Schwester trägt einen grünen Overall und eine Duschkappe.