1944

JANUAR 1944: In der Zeitung sind Bilder von den Bombenangriffen in Berlin, wohin mein Vater versetzt worden ist. Ich habe gerade lesen gelernt und versuche die Schlagzeilen zu entziffern.

FEBRUAR 1944: Ich erlebe einen englischen Tieffliegerangriff auf unseren Zug auf der Fahrt von Berlin nach Goslar. Ich sehe tote und schwer verletzte Kinder. Ich bete: «Lieber Gott, lass uns leben!»

FEBRUAR 1944: Mein Vater nimmt sich krank und depressiv das Leben. Seine Eltern geben meiner Mutter die Schuld. Einmal kommt der Grossvater aus Kiew mit einer Pistole zu meiner Mutter, um sie zu töten. Mein kleiner schweizer Grossvater erklärt dem russischen Hünen ganz ruhig, er solle die Waffe weglegen und nach Hause gehen. Wir Kinder schauen zu.

MÄRZ 1944: Drei schwere Fliegerangriffe zerstören Frankfurt und unser Zuhause. Meine Eltern verlieren alles zum zweiten Mal. Beide überleben den Krieg nur wenige Jahre.

JULI 1944: Ich geniesse zum letzen Mal die Sommerferien bei Opa und Verwandten in Kolberg in Pommern mit Strandleben, Wanderungen und Kurkonzerten.

JULI 1944: Ich erfahre, dass Hitler hier in Ostpreussen gerade ein schweres Attentat überlebt hat. Ich bin schwer enttäuscht. Meine Mutter verbietet mir, in der Öffentlichkeit schlecht über Hitler zu reden, da sonst meine Eltern beide ins Gefängnis kommen würden.

SEPTEMBER 1944: Ich beginne die Primarschule. Mein Lehrer kommt mir vor wie der Erzengel Gabriel. Trotzdem verstehe ich die Verbindung zwischen Wort und Bild im ersten Lesebuch nicht und habe beim Kopfrechnen mein erstes Blackout.

SEPTEMBER 1944: In meiner Verzweiflung, wie denn mein Leben weitergehen soll, trifft mich ein Kirchenlied: «Bist du doch nicht Regente, der alles führen soll: Gott steht im Regimente und führet alles wohl». Es begleitet mich immer.